Zum ersten Mal ging die Eröffnung von Wien Modern im Theater an der Wien über die Bühne. Und die wurde für 2 Werke von Olga Neuwirth – der in diesem Jahr der Programmschwerpunkt gewidmet ist – nicht nur als Sitzplatz für die Musizierenden benötigt.
Gleich zu Beginn wurde ein Film eingespielt, auf dem der Besitzer des Hotels Waldhaus in Sils Maria im Engadin, sehr liebenswürdig und anschaulich zugleich, eine wahre Rarität vorstellte. Er präsentierte ein mechanisches Klavier, das noch vor dem 1. Weltkrieg angefertigt worden war und an Abenden, an denen es keine Live-Musik gab, die Hotelgäste unterhielt. Nachdem seine Mechanik kaputt geworden war, fristete es Jahrzehnte ein unbeachtetes Dasein in der Abstellkammer, bis es der neu eingestellte Haustechniker die „Welte Mignon“ in liebevoller Restaurierungsarbeit wieder zum neuen Leben erweckte. Das noch weit Phantastischere an der Geschichte ist, dass dazu noch eine große Anzahl an Papierwalzen erhalten ist, auf denen Pianisten der Entstehungszeit der Klavieres Werke eingespielt haben und so Musik konserviert werden konnte – noch bevor das Grammophon seinen Siegeszug antrat. Auf diese Weise ist das Hotel heute im Besitz eines wahren Musikschatzes. Olga Neuwirth ließ sich davon inspirieren und schuf ihr Stück „Kloing“ für computergesteuertes Klavier, Live-Pianisten und Videoeinspielung. Und es wäre nicht ein Stück von Neuwirth, würde es vor Einfällen nicht gleich so strotzen.
Ganz am Anfang, nachdem der Pianist bemerkt hat, dass sein Instrument ein Eigenleben hat, tritt er mit diesem kokett in einen zarten Dialog. Die mittlere Lage, die computertechnisch verstimmt ist, verströmt einen Hauch von Erinnerung und evoziert ein Gefühl von längst vergangenen, schönen Zeiten. Begleitet wird das musikalische Geschehen von einem rasant geschnittenen Film, der immer wieder von Live-Einspielungen unterbrochen wird, in welchen die Tastatur des Klavieres zu sehen ist, auf welcher sich ein wahrer Kampf abspielt. Kurz wiegt Neuwirth ihr Publikum im falschen Glauben, dass es einer Präsentation beiwohnt, in welcher das Miteinander von Mensch und Maschine in trauter Harmonie vorexerziert wird. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, artet die Komposition doch in einen Kampf der beiden aus. Mit zunehmender Dauer hat man den Eindruck, als würde das Klavier sich wie ein lebendiger Organismus gegen Aufgezwungenes wehren und selbst Oberhand gewinnen wollen. Was dann auch vollends durch einen wunderbaren Einfall der Komponistin erreicht wurde. In Zusammenarbeit mit dem Institut für elektronische Musik und Akustik der Musikuniversität Graz gelang eine Sonifikation, also eine Umsetzung eines Erdbebens in eine Partitur. Doch bevor man meinte, die Tasten würden von gigantischen Erdwellen in Bewegung gesetzt werden, durfte Marino Formenti tief in die Klangkiste des 19. Jahrhunderts greifen. Ob romantische Walzer von Schubert, die Regentropfenprelude von Chopin oder einer der ungarischen Tänze von Liszt, immer war es das Klavier, welches im Wettstreit mit ihm das letzte Wort für sich beanspruchte. Dabei gebärdete sich die Elektronisierung als würde sie sich wie ein Pulsschlag durch alle Register fortpflanzen oder auch wie ein wild gewordener Kobold, der imstande war, des Pianisten Spiel ununterbrochen zu stören. Als schließlich die in Notation verwandelten Aufzeichnungen der seismischen Erschütterungen auf den Tasten Platz ergriffen, musste der Pianist w.o. geben. Keine Taste mehr, die von Formenti gedrückt werden hätte können, kein Rhythmus mehr, welcher dieser Urgewalt etwas entgegensetzen hätte können. Wer das Stück als reine Technikkritik begreift, denkt etwas zu kurz. Denn die Umsetzung der seismischen Kurven auf die Tasten des Klavieres sind nur ein Hilfsmittel, um die Urgewalten der Natur zu veranschaulichen, gegen die der Mensch und auch seine noch so ausgeklügelte Technik letztendlich völlig hilflos sind.
Formenti gab sich am Ende nicht nur dem technisierten Klavier geschlagen, sondern auch der Natur selbst, die, so hatte es zumindest den Anschein, den Sieg über jede Technik errungen hatte. Der Mensch bleibt bei Kloing – und das in wunderbar humorvoller Verpackung – ein Spielball zwischen Natur und Kultur.
Der zweite Teil des Abends war Neuwirths Bearbeitung von Songs des weltberühmten Countertenors Klaus Nomi gewidmet. Der jung verstorbene Nomi faszinierte in den frühen 80er Jahren nicht nur Neuwirth. Viele seiner Lieder wie „Simple man“ oder „Eclipsed“ sind heute noch Ohrwürmer und so wunderte es nicht, dass das Publikum der Neuinterpretation, gesungen von Andrew Watts, dankbarst folgte. Die schräge Instrumentalisierung, die ganz ähnlich auch Goran Bregovic mit seinem Wedding- and Funural-Orchestra einsetzt, bewirkte, wie schon in „Kloing“ zuvor, dass der Eindruck entstand, einer musikalischen Erinnerung beizuwohnen. So gesehen hat Neuwirth ihr Ziel sicherlich erreicht – eine Reminiszenz an einen Künstler zu schaffen, der uns leider schon lange nicht mehr mit seiner außergewöhnlichen Musikalität und Stimme erfreuen darf. Die hinterlegten kurzen Filme, auf welchen ein bärtiger Kapitän – stand Captain Iglo Pate? – jedes neue Musikstück einläutete, bewirkten, dass das Bühnengeschehen in einzelne Kapitel unterteilt wurde. Und tatsächlich hatte man gegen den Schluss hin den Eindruck, als hätte man ein dickes, reich bebildertes Buch durchgeblättert und an vielen einzelnen Geschichten teilnehmen können. Der einzige Wermutstropfen war die mittlere Stimmlage, die bei Watts lange nicht mit so viel Brillanz und vor allem Kraft ausgestattet ist wie seine hohe. Dies hielt das Publikum jedoch von heftigen Bravo-Rufen überhaupt nicht ab. Das Klangforum Wien unter dem Dirigenten Clement Power agierte, wie immer, professionellst, tadellos und mitreißend.
Ein ganz besonderer Eröffnungsabend, voll mit Witz, Ironie und musikalischem Tiefgang, bei dem einmal mehr deutlich wurde, dass zeitgenössische Musik primär nicht nur kopflastig, sondern auch extrem unterhaltend sein kann.