Ein großes Glasfenster gibt den Blick frei auf eine grüne Landschaft, während das Publikum seine Plätze aufsucht. Als das Ensemble die Bühne betritt, muss es Taschenlampen benutzen, denn die Nacht ist angebrochen.
Birgit Stöger, Tamara Semzov und Thomas Kolle suchen sich einen Platz auf einer Laufsteg-ähnlichen Architektur und legen durch Wegziehen von Plastikfolien ein Schwimmbad frei, das ohne Wasser den Bühnenraum beherrscht. (Bühne und Kostüm Andrea Simeon gemeinsam mit der Regisseurin Blanka Rádóczy) Metaphorisch haben sie sich von einer irritierenden, angsteinflößenden Außenwelt in einen geschützten Raum begeben. Einen Raum, in dem sie ins Innere ihres Seelenlebens schlüpfen werden, um es von verschiedenen Blickwinkeln aus zu erforschen.
Die deutsche Autorin und Peter-Härtling-Preisträgerin Regina Dürig schuf mit der Novelle „Federn lassen“ die Grundlage für das Stück im Kosmostheater und erhielt dafür 2021 den Literaturpreis des Kantons Bern. Darin vermisst sie weibliche Befindlichkeiten von der Kindheit an bis ins mittlere Lebensalter. Sie beschreibt Erlebnisse, die so oder in leicht abgewandelter Form viele Frauen teilen. Ereignisse, die das Verständnis von Frau-Sein über die Jahre hinweg prägen und formen. Momente, über die aber oft nicht gesprochen wird. Es sind mit Scham behaftete Erlebnisse, wie verbale oder körperliche Übergriffe, die von Kolle, Semzov und Stöger in rosaroten bis knallroten Outfits vorgetragen werden. Dürigs Sprache bleibt dabei erstaunlich emotionslos und distanziert. Das psychologische Phänomen, welches eine Abspaltung des Ichs von traumatischen Erinnerungen bewirkt, wird dadurch spürbar.
Durch einen Regie-Kunstgriff gelingt es an einer Stelle dennoch, einen hohen Emotionslevel ins Publikum zu schieben. Und dies ganz ohne Action und Sprache. Semzov erzählt einleitend von einer Situation, in der die „Du-Erzählerin“ Opfer einer Vergewaltigung durch vier junge Männer wurde. Das, was in ihrem Kopf dabei vor sich ging – Erinnerungsfetzen in Stichworten zusammengefasst – werden dabei in großen, weißen Lettern auf die schwarze Bühnenrückwand projiziert. Unterstützt von einer beklemmenden Stille, die sich im Saal ausbreitet, entsteht ein unheimlicher Sog, ein Mitfühlen und Atem-Anhalten und ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit.
Immer wieder werden jene Momente thematisiert, in welchen Frau sich von Mann zu Handlungen überreden lässt, die sie eigentlich nicht machen möchte. Immer wird dieses Übergehen des eigenen, richtigen Bauchgefühls prompt mit einem negativen Ausgang bestraft. Ob es ein Essen wider Willen oder ein Saunabesuch ist, von dem Frau weiß, dass sie ihn nicht verträgt, ob es das arglose Mitnehmen des Freundes eines Freundes in die eigene Wohnung oder das Kaufen eines spitzenbesetzten BHs anstelle eines bequemen, bauchfreien Oberteils ist – jedes Mal führt das Übergehen der eigenen Bedürfnisse zu einem Zurechtstutzen der Idee, die vor allem noch junge Frauen von einem gelungen, selbstbestimmten Leben haben. Mit jeder neuen Enttäuschung, Kränkung oder Belästigung lässt dabei die eigene Seele Federn, solange, bis sie sich selbst nur mehr vage spürt und sogar am eigenen Leib strafrechtlich erlittene Handlungen leugnet.
Als auditive Ergänzung dienen Soundeinspielungen (Moritz Wallmüller), welche die Putzhandlungen und Aufräumarbeiten unterstützen, die zwischen den einzelnen Textpassagen ausgeführt werden. Je länger die Vorstellung dauert, umso stärker drängt sich die Frage auf: Wie oft muss sich eine Frau selbst beschneiden, wie oft lässt sie es noch zu, dass ihr Körper und ihre Gefühle massakriert werden, ohne eine Konsequenz zu ziehen? Und diese Frage bezieht sich nicht nur auf die Figuren auf der Bühne.
„Federn lassen“ ist ein Stück für Frauen und Männer jeden Alters. In ihm werden Erfahrungen geteilt, die Jüngeren als Mahnung gelten können, sich in gewissen Situationen standhafter zu erweisen und auf sein eigenes Gefühl zu hören und diese nicht zu übergehen. Es ruft aber auch Erinnerungen hervor, welche die vermeintlich eigene Schuld an Missbräuchen jeglicher Art relativieren und entlasten. Und es bietet viel Redestoff zwischen den Geschlechtern, ohne dabei jemals das Gegenüber anzuklagen oder verurteilen zu müssen.