Herzmanovsky-Orlando (1877 – 1954) erlebte eine kleine Bekanntheitsblüte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, hervorgerufen durch die Herausgabe seiner Werke durch Friedrich Torberg, die allerdings erst einige Jahre nach dem Tod von FHO stattfand. Es war jene Zeit, in der auch die Malerei des Phantastischen Realismus mit seinen Vertretern wie Fuchs, Brauer, Leherb oder Hutter, um einige zu nennen, einen wahren Hype erlebte. Eine Zeit, in der kunstfreudiges Publikum besonders stark auf Phantasiewelten – auf welchem Gebiet auch immer – reagierte und diese freudig aufnahm.
„Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter“ ist eines jener Stücke von FHO, welches – wenngleich auch im Abstand von vielen Jahren – hie und da auf einer deutschen Bühne auftaucht. Sonst ist es eher still um jenen Autor geworden, der für wunderliche, sonderbare und für kuriose Geschichten jenseits jeglicher realen Erfahrbarkeit steht. „Cavaliere Huscher oder Herr von Ybs verhängnisvolle Meerfahrt“ erlebt nun seine Bühnenumsetzung im Theater Arche in Wien. Der Text – nicht für das Theater gedacht, sondern eine Erzählung – ist für die meisten eine Neuentdeckung. Karl Baratta, der immer wieder literarische Raritäten aufspürt, inszenierte ihn feinfühligst mit einem künstlerisch beeindruckenden Trio.
Nikolaus Kinsky gibt den Erzähler und verkörpert dabei zugleich Herrn Yb. Die Sopranistin Manami Okazaki agiert als verführerische Fremde und Sängerin. Diego Marcelo Collatti bespielt den Flügel mit seinen eigenen Kompositionen, die sich fein an den wundersam-skurrilen Text anschmiegen und ihn illustrierend unterstützen.
Die Geschichte ist FHO-typisch. Beginnt sie doch mit einer Prophetie, die sich am Schluss als wahrheitsgetreu herausstellt. Entlang vieler erzählerischer Lebens-Weggabelungen biegt das Geschehen akkurat immer ins Phantastisch-Unrealistische ab. Sosehr, dass man am Ende nicht mehr weiß, ob die Geschichte auch nur einen kleinen Funken Wahrheitsgehalt sein Eigen nennt. Dieses Charakteristikum, das bestimmend für Texte von FHO ist, löst einen beinahe schwindelerregenden Zustand aus, den man als erwachsener Mensch nur mehr in der Erinnerung an seine eigene Kindheit nachspüren kann. Es ist das Gefühl des unglaublichen Wunderns, welches eintrat, als man die ersten Märchen vorgelesen bekam. Ein Wundern und Staunen über eine Welt, in der buchstäblich alles möglich war, Phantastisches wie Reales zu gleichen Teilen, fehlte einem doch noch jegliches Realitätskorsett, das der Mensch erst im Laufe seiner Jugend sukzessive um sich herum aufbaut.
Allein dieser Umstand ist es wert, sich ins Theater Arche zu begeben. Dazu kommt, wie ganz nebenbei, noch zusätzlich das Surplus der Leistung des Ensembles. Nikolaus Kinsky, ausstaffiert mit einem schwarzen Gehrock, blank geputzten Schuhen und einer Lesebrille, erzählt vor einem weißen Paravent über das Leben des zurückgezogen lebenden Privatgelehrten Herrn Yb, das eines Tages völlig unvorhergesehen aus dem Ruder läuft. Er tut das mit einer derartigen Verve, dass jeder einzelne Satz einen Hör- und Sehgenuss der Extraklasse mit sich bringt. Dies, weil die Stimme von Kinsky sich unglaublich ins Ohr schmeichelt und seine beredte Mimik und seine zurückhaltende, aber treffsichere Gestik die Figur von Yb, aber auch alle weiteren, über die er berichtet, mit prallem Leben ausstaffiert. Man wähnt sich zurückversetzt in die Zeit der Jahrhundertwende, fühlt körperlich das Rattern und Schnaufen einer Dampflok, riecht ein vermodertes Verlies und bedauert einen armen, getriebenen Geist, der über seine eigene Courage komplett aus dem Gleichgewicht gerät. Nicht zuletzt erinnert man sich auch an Freuds Thesen, wonach der Ursprung von Neurosen in einem unterdrückten Sexualleben zu finden sei. Die Unmöglichkeit, dem Text analytisch-reflexiv beizukommen, macht ihm zu einem, welcher sich in die Kategorie jener einreiht, die einen zeitlebens begleiten und doch immer wieder frisch und neu, mit anderen als bisher gesehenen Perspektiven überrascht.
An der Seite von Nikolaus Kinsky tritt Manami Okazaki als Wellen-Pantomimin in knallroter Roben-Eleganz genauso auf, wie als schlafende Schönheit oder als Sängerin, welche dem Gefühlswirrwar des Herrn von Yb hörbaren Ausdruck verleihen kann. Begleitet wird das Geschehen von Diego Marcelo Collatti am Klavier. Der in Argentinien geborene Komponist verwendet ein Tonmaterial, das neben atonalen Klängen auch immer wieder mit eingesprengten Harmonien aufhorchen lässt. Auch dieser Umstand trägt dazu bei, dass man meint, die Musik sei parallel zur Zeit der erzählten Geschichte organisch mitentstanden. Eine kleine Arie, in der Okazaki über das Herz von Herrn Yb berichtet, zeigt, dass Collatti ein Handwerk gut versteht. Bleibt doch seine Begleitung fein im Hintergrund, während das Klanggerüst es dennoch schafft, den hohen Sopran so fein abzustützen, dass auch noch der Text gut verständlich bleibt.
Wundern, Lachen, Kopfschütteln, Staunen – all das geht beim Zuschauen dieses zauberhaften Spiels mit einher. Die Inszenierung, die trotz allem die sprachliche Schönheit des Textes in den Mittelpunkt stellt, würde sich auch hervorragend als Hörspiel eignen, wenngleich dann die theatralischen Feinheiten der Darstellung des Herrn Yb verborgen blieben.
Der Umstand, dass die Proben stattfanden, als der Ukraine-Krieg ausbrach und im Moment kein Ende des grauenhaften Konfliktes absehbar ist, machen jede einzelne Vorstellung zusätzlich zu etwas ganz Besonderem. Wird man doch für die Dauer der Vorstellung so derart aus der Welt gekickt, dass keine einzige Minute im Theatersaal bleibt, um gleichzeitig die aktuelle, weltpolitische Realität wahrzunehmen. Psychologinnen und Psychologen raten zu bewussten Auszeiten, um sich nicht vom kriegerischen Wahnsinn psychisch deformieren zu lassen. Wer eine Auszeit-Garantie benötigt, der möge sich die restlichen, verbleibenden Vorstellungen im Theater Arche ansehen. Und staunend erfahren, wie aus Herrn Yb der Cavaliere Huscher wurde.