Pferdegetrappel und ein feines Glöckchengeläut ist zu hören, da biegt die Kutsche auch schon um die Ecke. Auf dem unbedachten Oberdeck mummeln sich die Gäste tief in ihre warmen Mäntel und Jacken und recken ihre Köpfe nach rechts und links.
Dem Kutscher mit der überlangen Peitsche am Bock vorne scheint die Kälte nichts auszumachen. Mit lauter Stimme erzählt er bei jedem Halt Interessantes aus der Geschichte der Stadt und setzt seine Peitsche als verlängerten Zeigefinger ein. Er erzählt hauptsächlich, wie es damals so war, in Strasbourg. Heutzutage verwandelt sich die sonst so noble „heimliche Hauptstadt Europas“, wie sich Strasbourg gerne selber tituliert, jeden Dezember in ein lebendiges Weihnachtstheater. Auf insgesamt 11 Plätzen ducken sich bis Jahresende spitz bedachte Holzhäuschen Seite an Seite und beherbergen Glühwein-, Keks- und Handwerksstände. Aber auch wild blinkende, bunte Weihnachtsgirlanden und rot-weiße Santaclausmützen mit einem elektrifizierten Stern an der Zipfelmütze – dieses Jahr der Renner – gibt es zu kaufen. Strasbourg scheint außer Rand und Band. Die Einheimischen überlegen sich ihre Fußwege durch die Stadt zu dieser Zeit tagsüber gut und umgehen meist großräumig das bunte Treiben, um nicht darin stecken zu bleiben. Nach Arbeitsschluss jedoch mischen sie sich selbst gerne unter die vielen Fremden, um sich an einem Glas Punsch zu wärmen.
Dass Straßburg aber gerade zu dieser Zeit ein kulturelles Erbe der Spitzenklasse seinen Besuchern zeigt, ist lange nicht so bekannt, wie der eben beschriebene „Christkindelsmärik“. Völlig unspektakulär und doch atemberaubend hängen sie zwischen den Säulen des Langhauses im Straßburger Münster – die 14 barocken Tapisserien, auf denen das Leben der Jungfrau Maria in seinen wichtigsten Stationen gezeigt wird. Wer das Straßburger Münster kennt, und die Hängung dieser Tapisserien das erste Mal sieht, ist leicht irritiert. Schweben sie doch, allen zeitgeistigen Sehgewohnheiten zum Trotz, hoch über den Besuchern und bilden einen Korridor, der vom Langschiff hin zum Chor führt. Man muss schon den Kopf in den Nacken werfen, um die prächtigen Gewirke genau betrachten zu können. Und das auch nur zur Advents- und Weihnachtszeit. Denn seit ihrer Restaurierung, die 1999 abgeschlossen wurde, sind die Tapisserien alljährlich wieder nur für diese wenigen Wochen zu betrachten.
Um Näheres über sie zu erfahren muss entweder französische Spezialliteratur gewälzt werden, oder man hat, so wie ich, das Glück, mit Herrn Xibaut, dem Kanzler des Erzbischofes, sich über die wechselvolle Geschichte zu unterhalten. „Wir haben selber lange nichts über die Vorgeschichte der Tapisserien gewusst“, gibt er offen und unumwunden zu. Erst die wissenschaftlichen Aufarbeitungen der letzten Jahre brachten Licht ins historische Dunkel. Was zur Zeit ihres Ankaufes, man schrieb das Jahr 1739, als hochmodern galt, stellt heutzutage eine kostbare, kunsthistorische Rarität dar. Mode ist eine kurzlebige Erscheinung geworden. Was im Frühjahr noch en vogue ist, kann schon im Herbst nicht mehr getragen werden. Im 17. und 18. Jahrhundert war dies noch ganz und gar nicht so. Denn, wie vom Kanzler weiter zu erfahren ist, hatten die gewirkten Bilder, als sie Straßburg erreichten, immerhin schon 100 Jahre auf dem Buckel. Und dennoch galten sie als modern, als stilbildend, eben als pariserisch. Für Paris waren sie auch ursprünglich geschaffen worden. Genauer gesagt für die Kathedrale „Notre-Dame“ , welche das führende Gotteshaus jener Zeit in Frankreich darstellte. Ludwig XIII hatte 1638 drei Wochen vor der Geburt seines ersten Kindes einen folgenschweren Schwur geleistet – nämlich ganz Frankreich der Jungfrau Maria zu weihen, wenn er einen männlichen Thronfolger bekommen sollte. Dass dem so war, ist hinlänglich bekannt. Dass dadurch die Marienverehrung in Frankreich einen weiteren Höhepunkt erleben durfte, nicht ganz so. So wurde denn auch ihr zu Ehren der Chor der Pariser Kathedrale erweitert, was zur Folge hatte, dass die 14 Tapisserien sich nicht mehr, wie zuvor, passgenau der Architektur anschmiegten.
Geschäftstüchtig war er jedoch, der Pariser Klerus und – was hier besonders zum Tragen kommt – auch darauf bedacht, die von Gott gegebene, königliche Weltherrschaft landauf, landab zu stärken. Und so kam es denn auch, dass sich die Herren des damaligen Domkapitels in Straßburg, allesamt der adeligen Familie der Rohans entstammend, kurzerhand dazu entschlossen, die Tapisserien für ihr eigenes Gotteshaus anzukaufen. Denn immerhin hatten sie den Wunsch, Straßburg neben Paris zur zweit wichtigsten Stadt Frankreichs umzugestalten. Und dazu gehörte vor allem der damals herrschende Kunstgeschmack. Egal ob Architektur, bildende Kunst, Literatur oder Musik. Die Rohans waren bestrebt, dem französischen Königshaus in allem vorbildlich nachzueifern. „Der Ankauf war auch politisch motiviert, muss man wissen“, erläutert Xibaut den schon beinahe als strategisch zu bezeichnenden Kaufhandel. Zwar passten die Tapisserien nicht in den Chor der Kathedrale in Straßburg – dieser war wiederum viel zu klein um die 14 großformatigen Bildteppiche aufzunehmen. Aber man machte aus dem vermeintlichen Übel kurzerhand eine Tugend und hing, so wie auch noch heute, die Tapisserien in das Langhaus der Gläubigen und zeigte so obendrein eine gewisse Art von Volksverbundenheit. Denn was in Paris nur für die kirchlichen Würdenträger zu sehen war, konnten nun in Straßburg alle Gläubigen bestaunen. Zwar waren Moden vor 250 Jahren nicht ganz so schnelllebig wie heute, aber dennoch unaufhaltsam. Und so kam es, dass mit den Jahrzehnten der sakrale Bilderreigen als altmodisch und unpassend empfunden wurde. Man besann sich auf die architektonischen Reize der gotischen Kathedrale und wollte diese nicht mehr durch barocke Tapisserien verhängt sehen. So wurden sie einfach abgehängt. Zumindest für den Großteil des Jahres. Wie das Elsass selbst, teilten sie nun auch das Schicksal der abwechselnden Zugehörigkeit zu Deutschland und Frankreich, wiederum Deutschland und wiederum Frankreich und waren während der Besetzung der Nationalsozialisten, welche diese als „Kulturgut ersten Ranges“ einstuften, der Gefahr ausgesetzt, aus dem Elsass abtransportiert zu werden. Zum Glück, und Dank des Einsatzes der damaligen Domherren, kam es nicht dazu und die über die Jahrhunderte im Elsass heimisch gewordenen Kunstschätze kehrten nach ihrem Intermezzo der Zwischenlagerung im Kloster der Heiligen Odilie, hoch oben in den Vogesen, wieder wohlbehalten zurück nach Straßburg. Und so ist es heute wieder möglich, sie zu bestaunen.
Die Anbetung der Könige zum Beispiel, auf der neben den in prächtigsten Gewändern gekleideten, orientalischen Könige auch ein Teil ihrer berittenen Begleiter mit stark gebauschten Fahnen zu sehen sind. Wie alle anderen Tapisserien auch, wird das Geschehen inmitten einer baufälligen, antiken Architekturlandschaft gestellt und verweist somit schon auf die Historie der Begebenheit an sich. Im 17. Jahrhundert war man ja auch noch weit entfernt, zeitgenössisch zu interpretieren.
Ich erfahre noch, dass jährlich 2-3 Millionen Menschen das Straßburger Münster besuchen. Eine genaue Zählung gibt es nicht. „Aber im Dezember sind es besonders viele. Denn die Menschen, die mit dem Nachschub der Kerzen für die Besucher beschäftigt sind, sind im Jänner sehr, sehr müde“, schließt Monsieur le Chancelier unser Gespräch. Und tatsächlich kehrt Ruhe ein, nach dem 6. Januar, dem Dreikönigstag. Die Tapisserien werden wieder ins Depot gebracht, die weihnachtlichen Märkte haben sich aufgelöst, und die Pferde der Doppeldeckerkutsche dürfen sich wieder genüsslich ausruhen; bis zum nächsten Dezember.
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf:
Französisch