Frauen an die Macht

Im Burgtheater inszenierte Andreas Kriegenburg Maxim Gorkis „Wassa Schelesnowa“ in der Urfassung von 1910. Spektakulär und dennoch kühl wird darin die Geschichte einer Frau erzählt, die nicht dem gängigen Mutterklischee entspricht.

Gorki hat sein Bühnenstück mehrfach überarbeitet, meist kommt eine spätere Fassung aus dem Jahr 1935 zur Aufführung, in der die russische Revolution und deren Auswirkungen auf die Charaktere vom Autor verarbeitet wurden. Die im Burgtheater gezeigte fokussiert sich auf die familiären Verhältnisse der Unternehmerin, wenngleich die Auswirkungen des beginnenden Kapitalismus darin bereits bestialisch wüten.

Das Spektakulärste des Abends ist das Bühnenbild von Harald B. Thor. Zu Beginn ein riesiges, gebogenes Dach aus dunklen Brettern, an der Unterseite mit hellen Lampen bestückt. Es wird von vier starken Seilen, die zum Schnürlboden führen, gehalten. Der verkrüppelte Pawel steht im ersten Bild darunter, inmitten von fein säuberlich aufgereihten roten Ziegeln, sichtbar betrunken. Er ist einer der Söhne der Unternehmerin Wassa Schelesnowa. Christine von Poelnitz spielt diese starke Frau mit starker Präsenz, die, während ihr Mann im Sterben liegt, sich allergrößte Gedanken um die Zukunft macht, zumal die Familie heillos zerstritten ist.

Bald schon kippt das Bretterdach und verwandelt sich in eine bedrohliche schiefe Ebene, auf der Tische und Sesseln angebracht sind. Die Versinnbildlichung eines instabilen Lebenszustandes funktioniert. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die darauf stehen müssen, sind auf alle Fälle schwindelfrei. Was spektakulär aussieht und auch die Möglichkeit bietet, mehrere Orte zugleich anschaulich darzustellen –auf den Brettern selbst und auch darunter – hat nur einen Nachteil: Die Akustik. Die Sätze kommen teilweise, vor allem zu Beginn, sehr schwach über die Rampe, einzelne Worte verlieren sich in der luftigen Höhe. Aber je mehr der Abend voranschreitet, umso geringer ist dieses Manko wahrzunehmen. Vor allem auch, da die Schreilautstärke der Agierenden zunimmt. Immer wieder läuft die Drehbühne unter dem hängenden Bühnenbild und zeigt das Bett des sterbenden Vaters und ein Pianino, auf dem gespielt wird. Musik ist ein tragendes, atmosphärisches Element der Inszenierung. Häufig hört man eine kleine Akkordeon- oder Klaviermelodie, wie man es aus Filmuntermalungen kennt.

Die erste Lachnummer – Dunja (Sabine Haupt), eine Verwandte des Hauses, die als Hausdame agiert, zeigt dem Publikum sprechende Tücher, während dahinter die Magd Lipa (Alina Fritsch) ihre Morgentoilette macht. „Sie ist nicht die Schnellste“, „und auch nicht die Hellste“, ist darauf zum Beispiel zu lesen. Der Klamauk hält noch ein Weilchen an, dann ist aber Schluss damit für den Rest der Aufführung.

Der Plot ist etwas kompliziert und verästelt, die Herausarbeitung der Motivationen der einzelnen Figuren krankt schon im Text von Gorki. Ein großes Augenmerk wird auf das Gedränge und Gerangel der Familienmitglieder gelegt, weniger auf die psychologischen Hintergründe. Die Regie greift hier nicht helfend ein, sondern beleuchtet die Verhältnisse ebenfalls distanziert.

Wassa Schelesnowa holt ihre Tochter Anna (Andrea Wenzl exaltiert, verführerisch bis geläutert), die bereits eine eigene Familie gegründet hat, zu sich, in der Hoffnung, in dieser schweren Zeit von ihr Rückhalt zu bekommen. Ihr Schwager Prochor (Peter Knaack anfangs viril, moribund am Ende) ist eine Bedrohung, denn einerseits gehören ihm Firmenanteile, andererseits ist er ein großer Frauenverführer, der vor niemandem in der Verwandtschaft Halt macht. Semjon (Martin Vischer) und Pawel (Tino Hillebrand in permanenter, leichter Lähmungshaltung), die beiden Söhne, erfüllen die Hoffnungen ihrer Mutter in keiner Weise. Der eine ist seit seinem fünften Lebensjahr ein Krüppel, der andere von Syphilis befallen, mit der er auch seine Ehefrau infizierte. So bleibt der Firmenbesitzerin nur die Schwiegertochter Ljudmila (Aenne Schwarz höchst lebenshungrig), Pawels Frau, die trotz ihres Aufbegehrens und Ausbrechenwollens aus den familiären Strukturen ihre Schwiegermutter schätzt und versteht. Ihr Vater, Gutsverwalter (Dietmar König) macht sich Hoffnungen, nach dem Tod von Wassas Mann dessen Platz einnehmen zu können.

Reich, so glauben die Familienmitglieder zumindest, sind sie alle und gehen daher, bis auf Wassa, die die Firmengeschäfte führt, keiner Arbeit nach. Lipa und Dunja ausgenommen. Sie müssen allerhand Schmach ertragen, bis hin zu einer Kindstötung und einer gedungenen Vergiftung, die Lipa an Prochor vornimmt. Sie wird sich beim ersten Erzählklimax erhängen, schuldbeladen und doch nach ihrem Verständnis unschuldig. Alina Fritsch spielt extrem präsent und lässt den Charakter von Lipa in allen Varianten changieren. Schwach und ständig unterdrückt, aber auch voll Lebenswillen und gleichzeitig mit der Sehnsucht ausgestattet, ins Kloster zu gehen.

Nach dem Tod des Mannes von Wassa beginnt sich der Familienkrieg richtig zuzuspitzen. Waren es bis dahin nur kleine Scharmützel, die ausgefochten wurden, agiert nun plötzlich jeder gegen jeden. Alle versuchen, sich ihre Anteile zu erkämpfen, um aus dem Familiensystem mit Hilfe des Geldes auszubrechen. Sie machen jedoch die Rechnung ohne die Hausherrin. Scharfsinnig erkennt sie die Unfähigkeit ihrer Söhne und hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass sie als Alleinerbin im Testament verankert wird. Nach der Pause erschrickt die beinahe komplett aufgeklappte Bretterwand das Publikum. Um auf den Möbeln Halt zu finden, müssen sich alle an ihnen in luftiger Höhe festkrallen, eine Unachtsamkeit und der symbolische Absturz könnte Realität werden.

Erst als Wassa Schelesnowa ihre Söhne aus dem Haus verbannt hat und zumindest eine vermeintliche Ruhe eingekehrt ist, kippt die Ebene in einen Winkel, der mehr Standfestigkeit bietet. Der Verwalter schafft es dennoch nicht, sie zu erklimmen und muss das Feld Wassa und ihrer Tochter, sowie ihrer Schwiegertochter und Dunja überlassen. Bereinigt ist das Imperium vom schwachen Männergeschlecht. Erhalten für die nächste Generation, die Enkelkinder, die noch Nutznießer des Erbes sein sollen.

Gorki zeigt in der Hauptfigur eine Frau, die abseits vom gängigen Rollenbild die Fäden in der Familie in der Hand hält. Sie ist es, die den Ruin ihres Mannes abgewandt hat, sie ist es, die viele Köpfe versorgt und sie ist es, die schließlich gegen ihr Herz und Gefühl aufgrund ihrer Ratio Entscheidungen trifft, die man heute in der Wirtschaft als „Gesundschrumpfung“ bezeichnen würde. Kosten minimieren, auch wenn es gegen das eigene Fleisch und Blut geht. Hier hat Kriegenburg mit seiner Aussage recht, dass man das Stück nicht in die Jetzt-Zeit transportieren muss, denn die Parallelen sind ohnehin sichtbar. Interessant, dass zeitgleich zu dieser Inszenierung im Bank Austria Kunstforum eine Ausstellung mit dem Titel „Liebe in Zeiten der Revolution“ läuft. Darin wird aufgezeigt, wie in einem knappen Zeitfenster von der Revolution bis zur Stalinära, Frauen eine tragende Rolle nicht nur in der Kunst spielten, sondern in Russland Gleichberechtigung noch lange vor der westlichen Frauenbewegung der 60er Jahre angesagt war.

Die schauspielerischen Leistungen sind völlig ausgewogen, den jeweiligen Rollen entsprechend. Christiane von Poelnitz muss Wassa zwischen Herrschsucht, Überforderung und Traurigkeit anlegen und erhält dafür reichlich Applaus, der für die Regie selbst freundlich ausfiel.

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