Was für ein Gesicht!

Was für ein Gesicht!

Aurelia Gruber

Foto: ( )

27.

Mai 2014

Beim Betreten des Saales des Brut musste man durch ein Nadelöhr. Nur einer der beiden Flügel der Eingangstüre war geöffnet worden, so dass man unweigerlich an der unheimlichen, blau gekleideten Figur vorbei musste. Und das auf Tuchfühlung im wahrsten Sinne des Wortes. Zart ist die Gestalt, ihr Gesicht durch die große Kapuze nicht erkennbar. Mit […]

Beim Betreten des Saales des Brut musste man durch ein Nadelöhr. Nur einer der beiden Flügel der Eingangstüre war geöffnet worden, so dass man unweigerlich an der unheimlichen, blau gekleideten Figur vorbei musste. Und das auf Tuchfühlung im wahrsten Sinne des Wortes.

Marlene Monteiro Freitas hatte mit Ihrem Stück "Guintche" bei den Festwochen Österreich-Premiere  (Foto: Laurent Paillier)

Marlene Monteiro Freitas hatte mit Ihrem Stück „Guintche“ bei den Festwochen Österreich-Premiere (Foto: Laurent Paillier)

Zart ist die Gestalt, ihr Gesicht durch die große Kapuze nicht erkennbar. Mit einem leichten Druck auf den Rücken heißt sie einen herzlich willkommen, aber man ist froh, ihr zu entkommen. Froh auf seinem Platz zu sitzen – und froh, dass dieser nicht in der ersten Reihe ist. Denn dort findet sie sich ein, noch ehe der Abend richtig losgeht. Zu den Klängen einer traurigen Trompete hält sie das Knie eines Herren und beginnt sich wie von einem Fieberkrampf dabei zu schütteln. Der blaue Kapuzenumhang – gestylt, wie bei einem Boxer – fällt und sichtbar wird die Gestalt von Marlene Monteiro Freitas – jener Tänzerin, die ihr Soloprogramm „Guintche“ gleich bestreiten wird. Was aber ist aus dem hübschen Gesicht der Frau geworden? Welche Blicke sind es, die sie ins Publikum wirft? Es ist eine Fratze mit riesenhaften Augen, die bereit sind jene zu durchbohren, die ihrem Blick standhalten. Zu einem harten 4er-Beat, nun von einer trockenen Trommel mit einem Becken intoniert, positioniert sie sich am vorderen Bühnenrand um eine unfassbar lange Zeit dort ihr Spiel zu beginnen. Spiel und Tanz, Pantomime – alles ist eins bei Monteiro Freitas, fließt ineinander über, bleibt nie beständig. Eine grellrote, durchscheinende Spitzenbluse, darunter ein knappes Höschen, das mit violetten Federn bedeckt ist, all das kostümiert die schlanke Figur vorteilhaftest. Wenn nur dieses Gesicht nicht wäre. Der beständige Hüftschwung, die Verlagerung des Gewichtes von einem Bein auf das andere im Sekundentakt, all jene, die schon einmal versucht haben ein einziges Bewegungsmuster auf längere Zeit durchzuhalten wissen, wie anstrengend und konditionsfordernd das ist. Aber die Tänzerin scheint das überhaupt nicht zu tangieren. Während ihre Beine wie von selbst ihren Körper in Schwingung halten, agieren ihr Kopf und ihre Arme wie völlig unabhängig vom Geschehen unterhalb ihres Bauchnabels. Was sie da an Ausdrucksstudien ihres Gesichtes anbietet, ist atemberaubend. Im Sekundentakt wechselt ihre Miene und sie erscheint hintereinander, leicht interpretierbar als: Dumm, lasziv, aggressiv, affektiert, debil, gepeinigt, traurig, besessen, melancholisch, teuflisch und, und, und und. Um die Nerven des Publikums zusätzlich noch zu reizen, schiebt sie jenen Zahnschutz in ihrem Mund herum, der ihr gleich zu Beginn die Attitüde einer Boxerin verlieh. Und so mutiert sie schlagartig zu einer Frau mit riesengroßen, prallen, knallroten Lippen oder zu einer solchen mit heraushängender Zunge, oder auch einer zweizüngigen Gestalt, deren Zungenspiele pure Angst einflößen können. Monteiro Freitas macht sich einen unbändigen Spaß daraus, sich selbst zu entstellen und das Publikum mit ihrer fratzenhaften Erscheinung zu verunsichern. Immer noch ist es der trockene, anheizende Schlagzeugrhythmus, der den Sound für die unheimliche Choreografie abgibt. Immer noch steht sie am selben Fleck wie zu Beginn der Vorstellung, dabei mögen doch sicher schon 15 Minuten vergangen sein.

Erleichternd kommt jener Moment, in welchem sie beginnt, die Federn ihres Röckchens zu lösen, nun wird sich etwas ändern, das ist gewiss. Das weiße, knappe, durch seinen Stoff verspielt wirkende Höschen mutiert nun tatsächlich zur Boxershort denn die Bewegungen ihrer beiden Hände und Arme lassen sofort auf einen Schlagabtausch schließen. Aber ihr Gesicht zeigt es uns: Es ist kein fairer Kampf, den sie hier kämpfen muss. Es ist ein Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Gegen einen, der größer und stärker ist als sie und der sich nicht scheut, Schläge in ihr Gesicht auszuteilen. Beinahe spürt man diese Schläge selbst, so nah ist man am Geschehen, so unausweichlich kommt das schmerzverzerrte Gesicht Sekundenbruchteile später zum Vorschein. Die Performerin kennt keine Gnade, aber ihr wird auch keine zuteil. Der blutrote Mundschutz, mittlerweile zerkaut und die kleinen Teile auf den Boden gespuckt, wird nun durch die Plastikhandschuhe ersetzt, die Monteiro Freitas sich auszieht und ungeniert in den Mund stopft. Wie schon zuvor ist es ein natürlicher Würgereflex der einen überkommt, ohne dass man tatsächlich Gefahr läuft, so etwas Ekelhaftes wie einen Gummihandschuh in den Mund zu stecken. Die Tänzerin jedoch mutiert damit zum Zombie, zum Etwas, aus dessen Mund Finger wachsen, aus denen noch dazu Blut spritzt. Die Dame neben mir muss sich abwenden. Unter Stöhnen ist es ihr von nun an nur mehr möglich, dem weiteren Geschehen zu folgen. Und tatsächlich ist es nicht gut, zart besaitet zu sein. Zart besaitet, was die Aufnahme von Bildern betrifft, die außerhalb der menschlichen Norm verankert sind. Bilder die Erstickungsanfälle hervorrufen können oder Ekel, Bilder die Schrecken erzeugen oder Aggressionen. Das was hier zu sehen ist kennen wir dennoch alle. Aus Reportagefotografien, vornehmlich solchen, die aus Kriegs- und Krisengebieten stammen aber auch aus der bildenden Kunst. Franz Xaver Messerschmidts Charakterköpfe schimmern immer wieder einmal durch, Goyas Kriegstraumatisierte oder auch die „Maîtres fous“ von Jean Roch, auf welche die Tänzerin im Programmheft selbst verweist. „Gunitche“ nennt sich ihr Soloabend, ein kreolischer Begriff, der vielseitig interpretierbar ist. Vom Vogel zur Prostituierten oder jemandem, der das Leben nicht ganz so von der ernsten Seite her nimmt. Aber auch etwas, das sich ständig verändert. Auf Einladung der Wiener Festwochen zeigte Monteiro Freitas ihre „Mischwesen“, die nicht nur humaner Natur waren an insgesamt vier Abenden.

Als Witterung aufnehmendes Raubtier erroch sie sich dabei den Publikumsduft in ganz und gar nicht witziger Manier, sondern wieder war es eine Bedrohung, die dabei von ihr ausging. Wer war sich sicher, ob sie nicht über alle Reihen hinweg springen würde, um sich in eines ihrer Opfer zu verbeißen? Ihre Drohgebärde gegen jenen Mann, der am Balkon zu husten begann, machte klar, auch Sprünge in die Luft waren jederzeit zu erwarten. Gerade diese unerwarteten Momente waren es, die von Beginn an die Spannung auf einem Höchstlevel hielten. Dabei gelang es Monteiro Freitas nicht nur sich selbst, sondern auch das Publikum in einen permanenten Zustand der Anspannung zu versetzen. Je länger der Abend, umso intensiver wurde ihr tierisches Spiel. Als Affenfrau am Boden sitzend, das Publikum betrachtend oder als Vogel auf einem Bein, die Verwandlungen kamen so rasch, dass es kein Vorbereiten darauf gab.

Wie groß ist schließlich das Erstaunen, als sie sich der roten Bluse und der weißen, kurzen Hose entledigt und darunter das Kostüm einer Bodenturnerin erscheint. Und tatsächlich wechselt sie hier komplett das Genre. Taucht ein in jenen Bewegungskanon, der diesen jungen, gedrillten Mädchen eigen ist. Sie springt aus dem Stand einen Salto, lässt sich in die Grätsche fallen, rollt den Bühnenboden einmal komplett ausgestreckt stocksteif ab und geht immer wieder in Pose, das Gesicht den vermeintlichen Juroren freudestrahlend zugewandt. Nun ist es zumindest ansatzweise da. Dieses schöne, wunderbare Gesicht von Marlene, dieser offene Blick. Nun beginnt man sich heimisch zu fühlen, kann Emotionen eines Wettkampfes nachvollziehen und vergisst bald jene mit Angst erfüllten Momente, die erst wenige Minuten zurückliegen. Noch weiß man nicht, dass sie sich ganz zum Schluss noch einmal in jenes Tier verwandeln wird, das Witterung mit dem Saal aufnimmt und noch weiß man nicht, dass das Ende durch die akustische Einspielung eines zu Boden fallen gelassenen und zersprungenen Gegenstandes markiert sein wird. Noch überlegt man, wie es denn möglich sei, in einem einzigen Körper so vielerlei unterschiedliche Bewegungsmuster zu speichern. Wie es möglich sei, eine Stunde lang die Konzentration so aufrechtzuerhalten, dass eine durchgängig erzählte Geschichte hier nicht abgeht.

Monteiro Freitas erzählt keine Geschichte. Wenn man schon einen Erzählmodus festmachen wollte, so nur jenen von vielen, vielen unterschiedlichen Menschen, Tieren und fremden Wesen bis hin zu willenlosen Robotern. Sie alle wohnen an diesem Abend in dieser zarten, so zerbrechlich wirkenden Person. Besetzen sie, brechen aus ihr heraus und wieder in sie hinein, geben ihr Kraft und rauben ihr dieselbe. „Guintche“ ist tatsächlich das, was man selbst daraus macht – mit Hilfe des Katalysators Marlene Monteiro Freitas. Einer bewundernswerten, umwerfenden und unglaublich sympathischen Frau – wie man beim Applaus wahrnehmen kann. Einer Frau, die ihren Tanz gleich Don Quicote unbeirrbar auch gegen allergrößte Monster ausficht. Einer Frau, die sich um Schönheitsideale einen Dreck zu scheren scheint und damit aufzeigt, was es bedeutet, zu existieren. Welch tausend Möglichkeiten in einem einzigen Ich stecken. All das Wunderbare, aber auch all das Schreckliche, das das Leben auf dieser Welt für ein Individuum bereithalten kann konzentriert sich einen Abend lang in einer Person, einem Gesicht. Was für ein Gesicht!

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