Vorwärts, marsch!

Vorwärts, marsch!

Michaela Preiner

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11.

Juni 2016

„En avant, marche!“ ist ein pralles, fettes, emotional triefendes Theaterereignis, in dem nicht nur das Leben und der Tod, sondern auch das Theater an sich meisterlich zelebriert wird.

Tod und Leben, Musik, Tanz, Liebe und Angst. Freude und Hass, Gemeinschaft, Einsamkeit, Schmerz und Trauer. Das alles ist drin in „En avant, marche!, was übersetzt „Vorwärts, marsch! bedeutet. Die Gemeinschaftsarbeit von Alain Platel und Frank van Laecke bildet die Abschlussinszenierung, mit der das Festspielhaus in St. Pölten seine Saison ausbläst. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn der Hauptakteur des Abends ist die Stadtkapelle Tulln. Ein Blasmusik-Orchester, das aus Laien besteht, die die einmalige Gelegenheit bekamen, in einer internationalen Theaterinszenierung auf einer großen Bühne zu spielen.

En avant marche im Festspielhaus St. Pölten. (Foto: Phile Deprez)

En avant marche im Festspielhaus St. Pölten. (Foto: Phile Deprez)

Die Grundlage des Stückes ist „Der Mann mit der Blume im Mund“ von Luigi Pirandello, in dem ein Mann mit der Diagnose Mundkrebs die Aussicht auf nur mehr wenige Monate zu leben erhält. Wim Opbrouck verkörpert einen von Grund auf lebenslustigen Posaunisten, dessen ganzer Lebensinhalt das Posaunespielen im Orchester war. In einer Abfolge von einprägsamen Szenen stellen Platel und Van Laecke das Leid des Einzelnen dem Geschehen des Kollektivs gegenüber. Opbrouck darf hoch emotional mit seinem Schicksal hadern, seinen Schmerzen durch Schreie und Jammern Ausdruck verleihen und haltlos weinen. Er darf sich, so gut es ihm noch möglich ist, in das musikalische Geschehen seines Orchesters einbringen, wenngleich auch nicht mehr als Posaunist, sondern als Perkussionist mit den großen Becken in der Hand.

Wim Opbrouck hält die Becken in der Hand und wartet auf seinen Einsatz

Wim Opbrouck in „en avant marche“ im Festpielhaus St. Pölten (Foto: Phile Deprez)

Gleich in der allerersten Szene wird klar: Das, was hier gespielt wird, ist menschlich, nur allzu menschlich. Wie der kräftige flämische Schauspieler und Sänger mit einem CD-Player auf die Bühne schlurft, von Rückenschmerzen sichtlich geplagt, hat nichts mit der Verschönerung eines Charakters durch hehre Kunst zu tun. Vielmehr stehen die Lebensumstände eines schwer Erkrankten von Beginn an im Zentrum des Geschehens. Das große Pflaster, das er unter dem Hals auf seiner Brust kleben hat, ist ein Todesmenetekel. Das weiße Gurgelwasser, das er in hohem Bogen in die Luft versprüht, hat Todeshauch in sich. Obwohl kräftig von Statur, erscheint Opbrouck in vielen Szenen als kleines Häufchen Elend, das lange nicht wahrhaben will, wie es um ihn steht.

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En avant marche im Festspielhaus St. Pölten. (Foto: Phile Deprez)

Chris Thys schlüpft in die Rolle einer in die Jahre gekommenen Majorette, die gemeinsam mit Griet Debacker den Tambourstock meisterlich schwingt.  In ihren glitzernden, goldenen Kostümen unterstützen sie nicht nur das Orchester mit ihren akrobatischen Einlagen. Sie werden im Laufe des Abends auch zu jenen Angehörigen, die unter dem Abschied und dem Tod eines geliebten Menschen zu leiden haben. Doch bis der finale Akt eintritt, stellen die Theatermacher alle Höhen und Tiefen eines verlöschenden Menschenlebens in prallen Bildern zur Schau.

Steven Prengels schuf dazu einen musikalischen Kosmos, der sich quer durch die Jahrhunderte und Musikgenres zieht. Bereits in „Gardenia“, einer schrillen Transvestie-Show mit alternden Showstars, die Platel und Van Laecke ebenfalls gestalteten, steuerte er sein musikalisches Wissen bei. Seine Arrangements von Bach, Mahler, Schubert, Verdi Beethoven, Elgar, Holst und anderen werden an einigen Stellen von auditiv eingespielten Probenszenen unterbrochen. Auch andere Alltagsmomente aus dem Orchesterleben bieten, herausgelöst aus dem Erzählfluss, einen atmosphärischen Einblick in diese künstlerische Arbeit. Das Sitzen und Warten auf den Einsatz – gleich zu Beginn mit Opbrouk humorvoll umgesetzt, das Platznehmen auf den Stühlen, das Ablegen und wieder Aufnehmen der Instrumente, das An- und Ausziehen der Uniformen – all diese Tätigkeiten, die sonst keine weitere Beachtung finden, aber zum Alltag von Musikerinnen und Musikern gehören, werden wie unter einem Brennglas dem Publikum vorgeführt.

En avant marche im Festspielhaus St. Pölten. (Foto: Phile Deprez)

En avant marche im Festspielhaus St. Pölten. (Foto: Phile Deprez)

Immer wieder bricht der todkranke Posaunist aus seiner ihm nun zugedachten Rolle in der letzten Reihe des Orchesters aus und lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Dass dabei so manche Szene auch richtig komisch wird, verweist auf die Ambivalenz des Lebens. Die Kasperliaden, die der Musiker ins Probengeschehen einstreut – dabei servierte er imaginäre Getränke auf seinem Becken oder versuchte sich als Ballerina – sind jedoch Ausdruck von Übersprungshandlungen in einer verzweifelten Lage. Die Gegenüberstellung von tiefstem Leid und fröhlicher Lebensenergie, die immer wieder krass aufeinanderprallen, rhythmisieren die Inszenierung vom Beginn bis zum Schluss.

Wie in jener Schlüsselszene, in der sich der Posaunist schließlich immer stärker zurückzieht und sich auf das Sterben vorbereitet. Während man ihm hinter den Fenstern der aufgezogenen, braunen Ziegelwand zusehen kann, wie er sich auszieht und sein Pflaster wechselt,  tobt auf der Bühne davor (Luc Goedertier) ein musikalisch ausgelassener Lebenswahnsinn, bei dem nun nicht mehr ordentlich in Reih und Glied mit den Instrumenten in der Hand marschiert wird. Vielmehr wird gejazzt und musikalisch krakelt, was das Zeug hält.  Es ist ein dionysisches Spiel, in dem die Kraft des Lebens bis aufs Äußerste gefeiert wird. Zu einem Zeitpunkt, in welchem parallel dazu ein Mensch vom Leben Abschied nimmt.

Der Todeskampf, dem sich der Posaunist schließlich stellen muss, gerät zu einem rasanten Pas de deux mit dem jungen Tänzer Hendrik Lebon. Zu den nur auf einem Mundstück eines Horns intonierten Klängen von Schuberts Leiermann, vollführen die beiden einen Danse macabre, der atemberaubend ist. In einer fulminanten Folge von gegenseitigem Anziehen und Abstoßen, von Hebefiguren und Szenen, die an eine Verfolgungsjagd erinnern, wird nach und nach klar, dass es sich dabei um das letzte Aufbäumen gegen den Tod handelt, den Opbrouck zuletzt wie in einem Erlösungsmoment selbst anspringt und innig umklammert. Diese Choreografie gehört zu den einprägsamsten und intensivsten Momenten, die Platel in diesem szenisch so abwechslungsreichen Abend packte.

Mit einem Auszug aus Holsts „Planeten“ verabschiedet sich das Orchester vom Publikum. Der Platz ihres Kollegen bleibt am Ende leer, aber die Musik spielt weiter. „En avant, marche!“ ist ein pralles, fettes, emotional triefendes Theaterereignis, in dem nicht nur das Leben und der Tod, sondern auch das Theater an sich meisterlich zelebriert wird.

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