Das Theater und das Internet – zwei kulturelle Erfindungen mit Langzeitwirkung. Auch wenn ein Theaterabend schnell vorbei und das vorherige Posting rasch vergessen ist. Dennoch bleibt Geschriebenes und Veröffentlichtes in beiden Fällen, wenn schon nicht im kollektiven, dann schon im elektronischen Gedächtnis. Aus diesem Grund ist es manchmal ratsam, vor allem im Bereich der Theaterrezension, behutsam mit einer solchen umzugehen und nicht gleich dem ersten Impuls folgend, seine Meinung zu einem Stück zu äußern. Für diesen Artikel hat sich die Rezensentin wieder einmal mehr Zeit genommen, als sie dies normalerweise tut. Denn Nach-Denken war angesagt im Fall des Stückes „Valentinstag“ von Iwan Wyrypajew. Und das vor allem aufgrund einer falschen subjektiven Erwartungshaltung, davon jedoch später mehr. Am 7. März war im Theater Nestroyhof Hamakom Premiere, mehr noch, österreichische Erstaufführung. Regie führte der Hausherr himself, Frederic Lion.
Der Plot des Stückes ist an sich rasch erzählt. Zwei Frauen verlieben sich in denselben Mann, der sich zwar für die Ehe mit einer entscheidet, aber dennoch die Liebe auch zur anderen aufrecht hält. Eine klassische Dreiecksgeschichte also, die jedoch am Ende gleich mit zwei richtigen Verlierern, oder genauer gesagt, Verliererinnen aufwarten kann. Valentina (Gabriele Dossi) und Valentin (Harald Windisch) sind das Paar, das füreinander geschaffen zu sein scheint. Und doch ist Valentin mit Katja (Ingrid Lang) durch eine Intrige, die diese gegen Valentina führte, verheiratet. Katja zeichnet sich durch einen ungemein pragmatischen Zugang zum Leben aus und hat einen starken Verdrängungsmechanismus, der zusätzlich von ihren Alkoholexzessen gefördert wird. Valentina hingegen ist eine typische Vertreterin der leidenden russischen Seele. Auch Jahrzehnte nach dem Tod ihres Liebsten ist sie unfähig, ihn zu vergessen, oder gar eine andere Beziehung aufzubauen und kommentiert ihr Schicksal kokett mit den Worten: „Mir steht das Unglück“. Wyrypajews Werk ist explizit in Russland angesiedelt, verweist es doch zwischendurch blitzlichtartig auch auf die politische Entwicklung der letzten sechzig Jahre. Frederic Lion kommt diesen Verweisen insofern nach, als er die unterschiedlichen Zeitebenen des Stückes, die nicht chronologisch abgehandelt werden, mit Einblendungen von Photomontagen über der Bühne kennzeichnet. Zu Beginn steht dabei ein Schnelldurchlauf durch die russische Geschichte – ganz links das Porträt von Katharina der Großen, mittig jenes von Karl Marx und rechts der heutige Herrscher Russlands Putin. Später wird der Sturz von Lenin-Denkmälern und eine Fotomontage zu sehen sein, in der ein Pussy-Riot-Mitglied Putin mit einer Motorsäge den Kopf abschneidet. Doch trotz all dieser Verweise bleibt das Stück im Wesentlichen auf der psychologischen Ebene verankert, wäre also durchaus unter Weglassen der Russlandbezüge ohne Dimensionsverlust auch in andere Länder, ja sogar Zeiten zu transferieren.
In einem mehr als gelungenen Bühnenbild (Andreas Braito), welches die Architektur des schönen alten Saals des Hamakom geschickt miteinbezieht und welches zugleich von glanzvollen und elenden Zeiten kündet, vollzieht sich das Drama rund um den schwachen Mann und seinen zwei Frauen. Wobei der Autor nicht nur geschickt die seelischen Verletzungen der ProtagonistInnen und die Eskalationsstufen ihrer Hassentwicklung aufzeigt, sondern auch eine unerwartete Wendung der Handlung einbaut, die bis zum Schluss noch ihren Nachhall findet. Wyrypajew erweist sich dabei mehr als Frauenversteher denn als Verteidiger seines Geschlechtsgenossen. Harald Windisch hat die nicht ganz dankbare Aufgabe, diesen blassen, hin- und hergerissenen Mann, mit Leben zu füllen und darf nur in jener Szene Kanten zeigen, in welcher er seiner Ehefrau Katja die Liebe zu Valentina beichtet, vielmehr beichten muss. Und doch ist er nicht der Alleinschuldige an allem seelischen Elend, denn nach seinem frühen Tod sind es die beiden Frauen, die keinen Schlussstrich unter das Vergangene ziehen können. Gabriele Dossis Kostüm mit einer Blue-Jeans und einem violetten Frack erinnert an einen Zirkusdompteur, wenngleich ihr Charakter eher zum Leiden denn zum Beherrschen neigt. Ganz konträr dazu zeigt sich Ingrid Lang. Sie verkörpert Katja in einem grauen, bodenlangen Rüschenkleid und schleppt über lange Strecken ihr großes Akkorden mit sich herum, auf dem sie meist melancholische Weisen intoniert. Den Zeitsprung schafft Lucie Strecker, verantwortlich für die Kostüme, indem sie dem Ensemble durchsichtige Plastiküberhänge – wie Schutzhüllen aus der Reinigung – überzieht, was durchaus Sinn macht. Die Bekleidungsstücke der Frauen – Katja romantisch und Valentina herrisch – macht erst im Erkennen der jeweiligen Charaktere am Schluss des Abends Sinn, wo sich Hass und Härte sowie Nachgiebigkeit und Liebe erst tatsächlich zeigen. Ein wenig Nach-Denken war hier vonnöten, bestätigt aber letztlich die Entscheidung der Kostümbildnerin.
Valentina, die das Akkordeonspielen als Liebesersatzhandlung erlernte, wird bei Wyrypajew sogar zur Komponistin für ein Geburtstagsständchen. Wobei der Text eines ihrer Lieder, wie sie der Geliebten ihres Mannes Valentina erklärt, von niemandem Geringerem als Joseph Brodsky stammt, 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgert und 1987 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Wohl einerseits ein Hinweis von Iwan Wyrypajew, wie sehr Brodsky bereits in Vergessenheit geraten ist. Andererseits bezieht er sich damit aber auch auf ein Hauptthema des verstorbenen Literaten, dass nämlich in jedem Menschen das Böse schlummert und jeder und jede Unrecht begehen kann. Eine versteckte Vorwegnahme des Geschehens, in welchem ausgerechnet das Seelchen Valentina schließlich zweimal zu einem Gewehr greift, um Katja zu erschießen.
Die schönsten Momente des Abends sind jene, in welchen Lion dem Geschehen eine immense Portion Ästhetik überstülpt und Karl Stirner diese musikalisch beeindruckend untermalt. Da wird zum Beispiel Katja in einem Seifenblasenregen ganz in goldenes Licht getaucht, während hinter ihr die Liebesgeschichte von Valentin und Valentina einem neuen Höhepunkt zusteuert. Zum großen Teil lebt der Abend aber von jenen Dialogen, in welchen die beiden Frauen sich bis aufs rhetorische Messer bekämpfen, wobei Katja trotz permanent lärmendem Auftreten ein großes Herz zeigt und Valentina sogar den Mordversuch an ihr verzeiht. „Das kommt in den besten Familien vor“ – ist ihre lapidare Aussage, mit der sie Valentina ihr Gesicht wahren lässt. Ingrid Lang wirbelt in ihrem beinahe-schon-zerschlissenen Rüschenkleid in allen erdenklichen Körperhaltungen, die ihrer ständigen Trunkenheit geschuldet sind, über die Bühne. Sie ist es auch, die dem Abend ein schauspielerisches Highlight nach dem anderen aufsetzt. Einmal verkriecht sie sich in einen der vielen Aluminiumkoffer aus Angst vor ihrer Nebenbuhlerin. Ein andermal rezitiert sie, noch ganz im Besitz ihrer geistigen Kräfte, völlig hoffnungs- und emotionslos, aber umso liebenswürdiger und beeindruckender, einen von ihr geschriebenen Liebesbrief, auf welchen sie nie eine Antwort erhalten hat. Das surreale Ende, die Trennung der beiden Frauen, die doch ohne einander, wie sich zeigte, auch nicht können, schlägt abermals einen Bogen nach Russland. Als Kosmonautin verkleidet entschwebt Katja ins Off, nicht ohne zuvor Valentina noch eine Nachricht in roter Bulle in den 70er-Jahre-Luster gesteckt zu haben. Eine Nachricht, die das Ende offen lässt.
Im Epilog erklärt Wyrypajew die Liebe zum Auslöser alles Übels der Welt, da mit ihrem Erscheinen der Krieg begonnen habe. „Wegen der Liebe fingen sie an, einander umzubringen, sich die Augen auszustechen, an den Haaren zu ziehen, Gift in den Wein zu schütten, Bomben zu erfinden, Städte einzunehmen, Kinder zu töten, sich für Politik zu interessieren, Fußball zu schauen, die Sauferei ging los und all das andere.“ Wären diese Sätze zu Beginn des Stückes gestanden, dann wäre die Erwartung, in eine zeitgenössische Geschichte einzutauchen, die über die gezeigten Charaktere hinaus auch ihr soziales und politisches Umfeld näher einbezieht, vielleicht gar nicht aufgekommen. Dieser Kritikansatz ist – wie kann es anders sein – ein rein subjektiver, der jedoch ursächlich den Autor und nicht die Inszenierung betrifft. Dennoch bleibt der Text, nimmt man ihn als das, was er ist, nämlich eine tragische Liebesgeschichte, wert, aufgeführt zu werden. Dies nicht zuletzt durch die scharfen psychologischen Beobachtungen der einzelnen Charaktere und durch einen tiefgründigen und tiefschwarzen Witz, den er durchgehend bereithält.