Vita brevis, ars longa

Die Zeit ist reif. Endlich. Lange hat es gebraucht, aber jetzt scheint es soweit zu sein. Der ÖKB (Österreichische Komponistenbund) hat anlässlich seines 100jährigen Bestehens ein Konzert zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gewidmet. Er steht mit dieser Geste nicht alleine da. Schon seit langem agiert in Deutschland der Verein „musica reanimata“, der sich alleine der Wiederentdeckung verfolgter KomponistInnen widmet und in dessen Kuratorium niemand geringer als Daniel Barenboim und auch Udo Lindenberg vertreten sind. Erst vor Kurzem war bei den Wiener Festwochen die Produktion von „Letzte Tage. Ein Vorabend.“ von Christph Marthaler “ ebenfalls musikalisch ganz jenen Komponisten verpflichtet gewesen, die unter den Nationalsozialisten das Land verlassen mussten oder zu Tode kamen.

Die Aufführung am 12. Juni im Konzerthaus wurde vom „österreichischen ensemble für neue musik“ bestritten, das im Laufe seines mehr als 35jährigen Bestehens über 300 Uraufführungen erarbeitete. Das überaus abwechslungsreiche Programm wurde mit den „Variationen über ein französisches Revolutionslied für 11 Spieler“ von Marcel Rubin (1905-1995) eröffnet. Das darin vorkommende Motiv geht auf die „Carmagnole“, einen zur Zeit der Französischen Revolution überaus populären Gassenhauer, zurück. Mit einem plärrenden Intro wird grobschlächtig die Melodie vorgestellt, die jedoch schon bald einem subtileren Walzer, den die Streicher aufnehmen, weicht. Abermals dreht sich das akustische Geschehen, denn die Posaunen leiten im breitesten Fortissimo zu Trommelklängen wieder eine revolutionäre Grundstimmung ein. Rubin bleibt auch in weiterer Folge seiner Kompositionsidee treu, Revolutionsenergie hörbar zu machen, ihr aber andererseits ein subtiles Klanggeschehen entgegenzusetzen, wie dies dann in einem Duett des Cellos und der Geige geschieht. Das darin abermals aufgenommene Thema wandert in die gesamten Instrumentengruppen weiter und erhält dabei einen stark kammermusikalisch geprägten Ausdruck. Mit hymnischen Bläsern endet schließlich das Geschehen. „Mit zehn Symphonien, oratorischen Werken und verschiedenartiger Vokal- und Kammermusik zählt Rubin zu Österreichs profiliertesten Tonschöpfern“ ist dem informativen Programm zu entnehmen, welches das Festival begleitet.

Eine musikalische Besonderheit stellte den zweiten Programmpunkt dar. Joseph Horovitz (geb. 1926), international mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichneter Komponist, musste 1938 nach England emigrieren. Neben einem reichhaltigen Werk der E-Sparte zählen auch viele Kompositionen, die er für das Fernsehen schuf, zu seiner Arbeit. Mit seinen „Variationen über ein Thema von Paganini“ für Bläserquartett gelang ihm ein besonderer Wurf. Er zerlegte die Vorstellung des Themas von Paganini aus seinem Capriccio Nr. 24 in seine Einzelteile und ließ diese von allen 4 Musikern vortragen. Ein kleines Kunststück, mit dem die Herren gleich zu Anfang brillieren konnten, erfordert es doch eine intensive Abstimmung unter den Musikern, um nicht einen Augenaufschlag zu früh oder zu spät in den Staffellauf einzusteigen. In den darauffolgenden 7 Variationen sind deutliche Anklänge an das 19. Jahrhundert bemerkbar und auch die virtuose Passage zwischen Oboe und Horn und der brausende Schluss sind diesen Hörtraditionen stark verbunden. Ein Kabinettstück, das so ganz aus der zeitgenössischen musikalischen Produktion herausfällt, aber den Musikern sowie den ZuhörerInnen großen Spaß bereitete.

Ernst Krenek, der Komponist des dritten Stückes braucht wohl nicht näher vorgestellt zu werden. Sein „Divertimento“ aus der „Zweiten Symphonischen Musik op. 23“ beeindruckte vor allem durch die brillante Instrumentierung, die dem kleinen Orchesterapparat die größtmögliche Klangfülle entlockte und dabei immer glasklar in der Stimmführung blieb. Zwischen dem davor zu Gehör gebrachten Stück von Horovitz und jenem von Krenek wurde der gewaltige Sprung ins 20. Jahrhundert extrem deutlich. Und dennoch greift auch Krenek im zweiten Teil dieses symphonisch aufgebauten Satzes auf die tonale Tradition zurück, indem er sowohl einen Walzer als auch einen Marsch in diesem Klangverständnis einbaut und auch den Schluss tonal gestaltet.

Ein besonderes „Schmankerl“ erklang nach der Pause. „Die letzte Blaue für Klavier“, geschrieben 1990 von Walter Arlen, dem 1920 Geborenen, der nach Amerika emigrieren konnte. In diesem Werk erinnerte er sich an ein Lied seiner Kinderzeit, das er den Kunden im Geschäft seines Vaters oft vorgesungen hatte und über das er im Alter eine Fantasie schrieb. Mit der letzten Blauen ist jene Straßenbahn gemeint, die in den 20er Jahren als letzte Garnitur durch Wien fuhr und die zur Kenntlichmachung am Ende des Waggons eine blaue Lichtscheibe angebracht hatte. Das zarte Stück beinhaltet eine ganze Reihe von Strauss-Melodien, angefangen von der „Schönen blauen Donau“, über den „Radetzkymarsch“ bis hin zu populärem Liedgut. Dem nachdenklichen Ausklang, der Arlen abermals mit wenigen Noten aus dem Thema der „Schönen blauen Donau“ gelingt, setzte der Pianist noch eine kleine Paraphrase des Heurigenliedes „Jetzt trink ma no a Flascherl Wein“ nach, bei dem er violinistische Unterstützung erhielt. Arlens kleines, so zitatreiches Stück bezaubert durch seinen subtilen Witz aber auch durch das Gefühl, dass darin eine Zeit beschworen wird, die nicht nur vergangen ist, sondern dass das, was danach kam, von einem ganz anderen Geist geprägt war.

Der nächste Programmpunkt war vom oenm kurzfristig abgeändert worden. Roman Haubenstock-Ramatis Streichertrio ist auf die Abfolge der Töne B-A-C-H aufgebaut. Damit steht er in einer ganzen Reihe anderer Komponisten, die sich, wie schon ihr Namensträger selbst, an dessen musikalische Verewigung wagten. Schönberg, Webern und Berg sind hier zu nennen, wobei der Einfluss des letzten in Haubenstock-Ramatis Frühwerk zu erkennen ist. Den beiden diametral gegenüberstehenden ersten Sätzen, in welcher einem extrem dynamisch und kraftvollen Auftakt ein leiserer Part mit stärkeren Spannungsbögen folgte, ist eine logische Verbindung beider an den Schluss gesetzt. Mit fast metallenem Klang endet das stenografische Werk.

Mit dem Oktett op. 67 von Egon Wellesz, das dieselbe Besetzung wie Schuberts Oktett vorweist, mit dem es auch uraufgeführt wurde, klang der Abend aus. Das farbenreiche Werk ist in seinen ersten vier Sätzen einer traurigen Grundstimmung verpflichtet, in die immer wieder tonale Motive eingebunden sind, die von unterschiedlichen Instrumenten vorgeführt werden. Kleine Trios wie jenes der Bläser im dritten Satz oder Duette wie jenes der Klarinette und Geige im vierten Satz berühren durch ihre zarte Lyrik. Erst im fünften und letzten Satz genehmigt sich der Komponist eine große Portion Fröhlichkeit, lässt ihn mit einem Galopp beginnen und nach furiosem Vorführen des Hornes und der Klarinette im Fortissimo enden.

Ein facettenreicher Abend, der einmal mehr klar machte, dass Kunst einen längeren Atem hat, als menschenverachtende Ideen, die nur Tod und Leid hinterlassen.

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