Publikum, Mittäter und Gaffer

„Under de si“ von Diego Bianchi und Luis Garay ist Ausstellung, theatrale Performance und Happening zugleich. Die Wiener Festwochen koproduzierten das Event mit dem Centro de Experimentaciòn y Creaciòn del Teatro Argentino in La Plata. In Wien wurde ein eigenes Ensemble gecastet, das körperliche Höchstleistungen zu vollbringen hatte.

Für gewöhnlich betritt man den Vorstellungsraum des brut ebenerdig. Nicht so bei der performativen Installation „Under de si“ von Diego Bianchi und Luis Garay. Die Argentinier zeigten in einer Art Gruselkabinett Obsessionen aller Arten, die zwischen theatralischer Show und Happening vom Publikum erkundet werden konnten.

Es gibt Menschen, die lassen sich permanent erniedrigen und dabei im übertragenen Sinne mit Füßen treten. Bianchi und Garay nahmen diese Redewendung wörtlich und legten Menschen am Boden vor die Eingangstüre im ersten Stock. Bedeckt waren sie mit einer großen Sperrholzplatte über die man balancieren musste, um in den Saal gelassen zu werden. Ein grausiges Erlebnis für einige, für viele jedoch nichts weiter als ein ungewöhnliches Entrée.

Nach diesem ersten, unangenehmen Fast-Körperkontakt ging es weiter in den dunklen Raum. Vom Wandelgang in der oberen Etage konnte man sich einen guten Überblick über das Geschehen darunter verschaffen. Dort war es jedoch so dämmrig, dass man nicht umhinkonnte, sich auch aufs Parkett zu begeben, um sich alles genau anzusehen.

„Alles“, damit sind Menschen in surrealen Situationen gemeint, die eine Stunde lang in starren Positionen regungslos ausharrten oder Bewegungen repetitiv ausführten. Die Leistung des Ensembles, das in Wien für diese Vorstellung eigens gecastet wurde, war bemerkenswert. Bodybuilder, Ballett- und Pole-Tänzerinnen, drei Damen mit langen Haaren, drei tätowierte, junge Männer, ein Akrobat, ein Model und noch eine ganze Reihe anderer Menschen hatten laut Regieanweisung bekannte und seltsame Obsessionen darzustellen. Untermalt war die Szenerie mit einer lauten Geräuschkulisse, die via Lautsprecher eingespielt wurde. Neben den visuellen Reizen waren es aber auch olfaktorische – wie der intensive Geruch von Sonnencreme in der Nähe jenes Mannes, der unter einer improvisierten Sonnenbank lag und permanent mittels einer Vorrichtung von Sonnencreme betropft wurde. Und nicht zu vergessen auch haptische Erlebnisse, waren die Handläufe der Stiegen doch mit dunkelrotem, nach Essig riechenden Theaterblut beträufelt. Wohl dem, der Feuchttücher eingesteckt hatte oder so gute Augen, dass die Benutzung des Handlaufs nicht in Anspruch genommen wurde.

Mittig aufgebaut ein Raucherglassturz mit wechselnd vielen Menschen darin. Rauchen als Obsession der man, mittlerweile vom Gesetz vorgeschrieben, separiert von anderen nachgeht. Eine Sonnenanbeterin mit beinahe schon verbrannter Haut, ihr gegenüber eine junge Frau, angeschnallt abermals an ein Sperrholzbrett. Sie lässt sich damit an die Wand hinter ihr zurückfallen um es im selben Moment wieder hochzureißen. Das Klacken des Holzes beim Aufprall an die Wand begleitet das Geschehen eine Stunde lang immer im selben Rhythmus. Putz-und Waschzwang, die Frau, die davon besessen ist, steht mit dem Gesicht abgewendet in einer Ecke. Wohl geschützt von der Wand durch ein weißes Blatt Papier. Über ihren Körper verläuft ein weißer Strang Zahnpasta, leere Tuben am Boden zeugen von exzessivem Gebrauch. In einer anderen Ecke ein architektonisches Gebilde auf dem sich junge Frauen räkeln. Ihre Outfits machen deutlich, dass sie sich auf einer Party befinden, ihre Kommunikation verläuft aber nur via Handy. Das Handy als Obsession wird auch in jener Installation gezeigt, in der drei Männer in einer Box sitzend je eine Hand nach oben gestreckt halten. Darin jeweils ein eingeschaltetes Handy über dessen Display sie mit dem Daumen wischen, um zum jeweils nächsten angezeigten Bild zu kommen.

„pictures allowed“ zeigt ein kleines Schild dem Publikum an, genauso wie „smoking allowed“. Hier ist nichts verboten und wird von den Besucherinnen und Besuchern, zumindest was das Fotografieren mit den Handys betrifft, auch intensiv betrieben. „Under de si“ dürfte wohl eine der best dokumentierten Vorstellungen der Wiener Festwochen sein. Das Leuchten der kleinen Bildschirme egalisiert rasch Darstellerinnen, Darsteller sowie Besucherinnen und Besucher. Sonst ist von Gleichheit nicht viel zu bemerken. Denn auf der einen Seite stehen die Zusehenden, auf der anderen die Ausübenden, die je nach der Art ihrer Performance dominant aber auch unterwürfig leidend erscheinen. Am schlimmsten ist dies bei jener jungen Frau zu spüren, die sich eine Stunde lang im Stehen auf der Spitze übt. Bekleidet ist sie neben ihren Spitzenschuhen nur mit einem weißen Korsett und einer Gummimaske über dem Kopf, auf der falsche Wimpern aufgeklebt sind. Die Verhüllung ihres Gesichtes kompensiert die Nacktheit ihrer Scham nur zum Teil. Jene, die vor ihr stehen und ihr lange zusehen, werden in Sekundenschnelle zu gaffenden Voyeuren.

Das Ensemble scheint ausgeliefert zu sein, auch zu leiden, je länger die Veranstaltung voranschreitet. Doch niemand aus dem Publikum greift ein, niemand stört den Ablauf durch eine Hilfestellung, nicht einmal durch eine einfache Frage. Die Pole-Tänzerin plumpst in unregelmäßigen Abständen immer wieder hart auf den Boden. Niemand hilft ihr auf, niemand fragt, ob sie sich verletzt hat. Es ist das vorgegebene Kultur-Setting im Theaterraum, das beim Großteil des Publikums Passivität auslöst. Die Rezeption und das Konsumieren stehen im Vordergrund und führen zu einer dauerhaften emotionalen Distanz. Die „Autorität“ Theater evoziert übliche theatergerechte Verhaltensweisen. Erschreckend.

Lust ist ein Hauptthema des Abends, das unterschiedlich abgehandelt wird. Mit Männern, die ihre Zungen durch kleine Löcher durchstecken, Armen, die einen Akrobaten während seiner Drehungen liebkosen. Mit dem Blick auf lange Beine, die unter einem Bretterverschlag zeitweise zu sehen sind oder einem Narziss, der unablässig selbst sein Spiegelbild küsst – all das ist erotisierend aufgeladen und bleibt, obwohl das Publikum die Nähe zu den Akteurinnen und Akteuren selbst wählen kann, in einer theatralischen Distanz.

Der Körperkult, der hier so plakativ aufgezeigt wird, ist integraler Bestandteil des Abends, wenn nicht sogar Hauptbestandteil. Schön sein, sich ästhetisch produzieren, seine eigene Lust ausleben ohne Rücksicht auf die anderen erzeugt, und das wird in dieser einen Stunde deutlich, keine Nähe, sondern vermehrte Einsamkeit. Aber auch eine obsessive intellektuelle Auseinandersetzung – mehrere Asiatinnen betrachten ausgiebig ein Architekturmodell aus Styropor, ein Mann wälzt sich am Boden und knallt mit seinem Kopf, der in einem Holzgestellt feststeckt immer wieder hart an die Wand – wird in dieser Inszenierung einer Sucht gleichgestellt. „How long has this been going on“ lautet die musikalische Frage von ACE am Schluss des Abends. Zu ihr werden wie auf Kommando alle Agierenden erlöst, verlassen ihre Plätze, schütteln ihre Glieder aus, massieren sich, mischen sich unter das Publikum.

Schon zu Beginn der 80er Jahre integrierte die Performance-Kunst das Publikum, holte es aus seiner passiven Beobachtungsposition heraus. Schon damals war der Ekelfaktor häufig miteinkalkuliert, waren Räume in Dunkel getaucht, um die Sinne auszuschalten oder anders anzusprechen. Neu bei „Under de si“ ist einzig die kollektive Bereitschaft einer ganzen Crew zur physischen Verausgabung. Und die allgegenwärtige Präsenz von Handys. Für junge Menschen ein beeindruckendes Erlebnis, für ältere Semester mit mehr Erfahrung die Erkenntnis, dass Erlebnis-Kultur immer wieder von Neuem seine Anhänger findet.

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