Erfrorene Herzen

Sie heißen Woising, Schönberg, Mölbing, Priel, Loser und Elm. Ganz genauso, wie sechs Berge im Toten Gebirge. Fünf von ihnen leben in einer Psychiatrie, die sechste Person, Josefine Schönberg, kommt dorthin, um ihren Bruder, Raimund Woising zu besuchen.

Thomas Arzt schuf mit „Totes Gebirge“ ein Drama rund um die Befindlichkeit der aktuellen Gesellschaft, die er in einer Psychiatrie ansiedelt. Dabei schaut er hinter die Fassade und erkundet, wie es bei den einzelnen Individuen denn eigentlich zum Zusammenbruch gekommen ist. Das Theater in der Josefstadt brachte das Stück am 21. Jänner zur Uraufführung. Ein Stück, das nicht nur von seinem Text lebt.

Zwischen den einzelnen Szenen sind Lieder eingeschoben, die der Chor, der aus dem Ensemble besteht, singt. Dabei wird er von Zuspielungen der Musicbanda Franui unterstützt. Gstanzln, Landler, und andere volkstümliche Weisen von Markus Kraler und Andreas Schett, unterlegt Arzt mit Dialektpoesie, die er in einem Interview einmal selbst als „Kunstsprache“ bezeichnete. „Dewöd stehtnimma nedlaung“ – gleich in der allerersten Zeile klingt bekannte, österreichische Literatur an. Man kann sich gut vorstellen, dass Johann Nestroy dem jungen Autor beim Schreiben über die Schulter geschaut hat. Der Komet aus seinem Stück „Der böse Geist Lumpazivagabundus“ spielt auch bei Arzt eine große Rolle. Der junge Mann, Nepomuk Elm, ist wie besessen von ihm. An einer unheilbaren Krankheit leidend, warnt er ununterbrochen sein Umfeld vor dem Einschlag um 12 Uhr. Damit meint er die Stunde zum Jahreswechsel, auf den sich alle vorbereiten. Stefan Gorski brilliert in dieser Rolle als rothaariger, meist ans Bett Fixierter, wobei er dies entweder stehend, die Hände an einer Wand haltend, oder direkt am Boden liegend, mimt. Seine Not geht zu Herzen, sein Humor direkt an die Lachmuskeln. In seiner Interpretation eines gepeinigten Kranken wird die Brüchigkeit des Menschseins am deutlichsten spürbar. Sein Wunsch, einmal ein neuer Mensch zu sein, ist für ihn zugleich eine Vorstellung, die ihm erlaubt, zumindest für Augenblicke gedanklich aus seinem tristen Dasein zu flüchten.

Die Leiterin der Anstalt, Theresia Mölbing, muss noch wenige Tage vor Silvester einen Neuzugang verzeichnen. Raimund Woising (Ulrich Reinthaller agiert zwischen apathisch vor sich hinschlurfend und verbal aufbrausend) steht nur mit Wanderschuhen und einer Jogginghose bekleidet vor dem Sanatorium. Ein Eispickel ist alles, was er mit sich führt. Dass er damit zuvor seine biedermeierliche Wohnungseinrichtung kurz und klein geschlagen hat, erfährt man bald. Raimund, ein „schlechter Pädagoge“, wie er sich selbst bezeichnet, wurde als junger Mann von seinem Vater aus der Familie geworfen und musste, um zu überleben, den Lehrberuf ergreifen. Diese Demütigung und dieser Liebesentzug haben Spuren in seiner Seele hinterlassen. Gemeinsam mit seiner Schwester unternahm er einst eine Wanderung im Toten Gebirge, bei der etwas vorgefallen sein muss. Das nimmt zumindest seine Ärztin an. Ob er dabei tatsächlich ein traumatisches Erlebnis davongetragen hat, wird nicht ganz beantwortet. Aber vieles deutet dennoch darauf hin. War es eine unterlassene Hilfeleistung seiner Schwester, die ihn ohne Wasser alleine zurückließ, oder waren es schon instabile Geisteszustände, die man auf einen kommenden Zusammenbruch hindeuten hätte können, die er damals erlebte?

Stephanie Mohr, die „Totes Gebirge“ inszenierte, gibt den Figuren Raum und Zeit, sich zu entwickeln. Vielleicht ein wenig zu viel Zeit, denn man hat zuweilen das Gefühl, dass es nicht wirklich schwierig wäre, die 2 ¾ Stunden (inkl. Pause) um eine halbe zu kürzen. So bekommt man aber die Möglichkeit, in die einzelnen Charaktere tief einzutauchen. Eine zusätzliche Verlangsamung führt sie auch in jene Szenen ein, in welchen einige der Protagonisten wie in Zeitlupe das Geschehen rund um sie begleiten. Wie herausgefallen aus der Zeit wirken diese Figuren, was sie in ihrem eigenen Erleben oftmals ja auch sind.

Emanuel Loser (Roman Schmelzer), manisch-depressiv, kehrt immer wieder nach vereinzelten Ausbruchsversuchen in die Klinik zurück. Sein Denken kreist rund um die soziale Schere und die Unmöglichkeit, das soziale System noch zu retten. Seine Verantwortungslosigkeit im Umgang mit Alkohol bremst er nur an jener Stelle ein, an welcher er Josefine, genannt Finchen, die Schwester von Raimund, kennenlernt. Ihr streut er vergebens Blumen und hat nach der Zurückweisung seiner Angebeteten vor, sich umzubringen. Roman Schmelzer verleiht dem Charakter eine starke körperliche Präsenz. Die Liebesgefühle lösen in ihm einen wahren Höhenrausch aus.

Peter Scholz verkörpert Anton Priel, der Krankenpfleger und Hausdiener in einem ist. Er versteht sich als rechte Hand der Anstaltsleiterin und ist nicht vor emotionalen Ausbrüchen gefeit. Sein soziales Engagement hat jedoch nichts mit dem Willen zu herrschen zu tun. Getragen vom Gedanken des Helfenwollens, tut er sich mit so mancher Zwangsfixierung seiner Schützlinge schwer. Scholz hat die dankbare Aufgabe, abseits von inneren und äußeren Zwängen, die Menschlichkeit per se darzustellen. In Zwiebellook ausstaffiert, mit einem Werkzeuggürtel um die Mitte, ist er derjenige, der die Welt von seiner praktischen Seite her kennt und dennoch sein Mitgefühl in all den selbst erlebten Wirrnissen nicht verloren hat. Das Loch im Dach, durch das es regnet und schneit, kann er jedoch alleine auch nicht reparieren. Und so bleibt dies in einer schönen Symbolik das erste Anzeichen des Verfalls einer gesicherten Behausung, gesicherter Existenzen, eines gesicherten sozialen Umfelds.

Maria Köstlinger kann sich, zumindest gibt sie dies vor, als Josefine Schönberg, Schwester von Raimund, seinen Zustand nicht erklären. Pragmatikerin durch und durch, brechen ihre Emotion erst in jenem Moment auf, in dem sie von Raimund in einem Gefühlsausbruch mehrfach als „blöde Sau“ bezeichnet wird. Im Lied über das Weinen „Imaugal stehtmas wossa, Imechats rinna lossa“ lässt sie das erste Mal Gefühle zu. Theresia Mölbing hat in ihrem Job als Psychiaterin nicht nur einen Beruf gefunden, in dem sie sich wohlzufühlen scheint. Die Klinik ist zugleich auch ihr Zuhause und die Patienten ihre Familie. Susa Meyer verleiht ihr ein Profil, das zwischen Chefallüren und dem Wunsch nach sozialem Angenommenwerden pendelt. Sie ist es, die den Trupp dazu animiert, Silvester gemeinsam zu feiern unter der lachhaften Prämisse, dass doch alle daran denken sollten, wie gut es ihnen denn ginge. Wenn man dieses Dasein mit Menschen ohne Dach über dem Kopf und nahe dem Verhungern vergleicht, hat sie damit recht.

Das geschickte Bühnenbild von Miriam Busch wechselt zwischen einer großen, mit Schaumstoff ausgespannten Zelle zum kleinen Zimmerchen mit antikem Klavier von Frau Dr. Mölbing bis hin zu einem imaginierten Bergpanorama. Nini von Selzam verleiht dem Ensemble während seiner Chorauftritte Kappen und Hüte und zieht sie dabei warm an. Gefroren wird aber offenkundig in den Seelen der Menschen noch mehr als im kalten Winter. Das Tote Gebirge, das in der Erzählung von Raimund vorkommt, ist zugleich eine Metapher, die auf die Seelenzustände nicht nur der Patienten aufmerksam macht. „Tief drinnen hört man aber doch Wasser rauschen“, meint Raimund an einer Stelle und verweist damit nicht zuletzt auch auf Gefühlsregungen, die trotz der erlittenen psychischen Deformationen, bei allen noch vorhanden sind.

Thomas Arzt ist mit der Sprache aber auch der Anlage seines Stückes tief in der österreichischen Literatur und Kultur verwurzelt. Seine Hinweise auf die Winterreise von Schubert aber auch auf das Weite Land von Arthur Schnitzler machen deutlich, von welchen Inspirationen das Werk getragen ist. Nicht zuletzt ist es der oberösterreichische Dialekt, den Arzt verwendet, der das Stück zu einem österreichischen macht. Die gelungene Taktung zwischen Gesellschaftskritik und humorigen Einsprengseln, sowie die musikalischen Einlagen aus harmonischen Ohrschmeichlern ergeben einen vergnüglichen Theaterabend, der dennoch mit reichlich Diskussionspotential aufwarten kann.

 

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