Arnulf Rainer bezieht sich in den Übermalungen seiner eigenen, frühen Fotos auf die von Messerschmidt vorexerzierten Grimassen, ohne diese jedoch zu kopieren, und Maria Lassnig wiederum ergibt sich in ihren Bildern ganz dem punktuellen Körpergefühl, der Wahrnehmung von Muskelanspannung oder Körperausdehnung, Prozessen, denen auch Messerschmidt intensiv nachforschte, um exemplarisch zwei zeitgenössische, österreichische Positionen zu benennen. Die gezielte Auswahl der Arbeiten von Anthony Cragg – nämlich seine von ihm so bezeichneten „Rational beings“ – zeigen Plastiken, welche ebenfalls das Thema Portrait oder Kopf behandeln. Auf den ersten Blick nicht immer sofort erkennbar, eröffnet sich jedoch beim näheren Betrachten, ähnlich wie bei Vexierbildern, eine ganze Reihe von menschlichen Physiognomien. Der englische Künstler, mehrfach auf der Biennale in Venedig vertreten, aber auch auf der documenta und in zahlreichen großen Einzelausstellungen gewürdigt, entwickelt als Bildhauer eine Kunst weiter, die sich damit beschäftigt, Körper und Raum zu definieren und gleichzeitig den Betrachtern neue Möglichkeiten der Wahrnehmung anzubieten. In einem Interview mit Jon Wood machte er deutlich, dass der Mensch amorphe Gebilde wie z. B. Wolken, ständig lesbar umdeuten möchte und Augen, Münder oder Lippen dort erkennt, wo sich Formen dieser Art auch nur andeutungsweise zeigen. Tatsächlich erinnern seine ineinander verschobenen und übereinander angeordneten Gesichtsversatzstücke an menschliche Spiegelungen in leicht bewegtem Wasser, aber auch an Cartoons, die sich computeranimiert mühelos in ihrer Form verändern können und schwerelos durch Zeit und Raum flutschen. Cragg bedient sich in der Planunsphase zu seinen Plastiken auch des Computers, um Formen mit viel geringerem Aufwand als dies auf dem Zeichenbrett der Fall wäre, so zu gestalten, zu drehen und zu verformen, dass diese schließlich mit seiner Grundidee übereinstimmen und ausgeführt werden können. Das temporäre Element, das seinen Plastiken inne ist, ist auch den Köpfen Messerschmidts eigen, jedoch in einer anderen Form. Im Gegensatz zu Craggs additivem Verfahren, in welchem er hintereinander Kreis- oder Ellypsensschnitte aneinander setzt, um so zu einem Ausdruck zu gelangen, der eine knapp aufeinander folgende Zeitspanne einfängt, verwendet Messerschmidt nur einen ganz bestimmten, quasi eingefrorenen Zeitpunkt. Nicht das Davor und auch nicht das Danach interessierte Messerschmidt, sondern ein bestimmter Spannungszustand, der sich in der Physiognomie ausdrückt und sich so meist nur in wenigen Sekunden oder Bruchteilen von Sekunden manifestiert. Sowohl Messerschmidt als auch Cragg beschäftigen sich mit aktuellen Themen ihrer Zeit und wollten bzw. wollen diese in Kunst ausdrücken. Messerschmidt mit der Psyche des Menschen, die er allerlei Gefahren ausgesetzt sah und in Gesichtsausdrücken festzuhalten versuchte. Cragg mit dem Phänomen der Wahrnehmung, der Kreativität und dem Spannungsverhältnis zwischen technischem Fortschritt und dessen Einsatz in der künstlerischen Produktion. So spannend die Gegenüberstellung der Arbeiten ist, es wird auch rasch deutlich, dass die beiden künstlerischen Positionen unterschiedlicher nicht sein könnten. Messerschmidts Blick auf den Menschen bleibt nicht an der Oberfläche, so virtuos diese auch gestaltet ist. Er zwingt die Betrachter förmlich, sich über die psychischen Zustände der Portraitierten Gedanken zu machen. Schadenfreude, Schmerz, Wut oder Gleichgültigkeit sind so offenkundig ausgedrückt, dass es ein Leichtes ist, sich in diese Stimmungen bei der Betrachtung der Charakterköpfe hinein zu versetzen. Und am liebsten wäre man versucht, die eine oder andere Grimasse gleich einmal selbst auszuprobieren. Der Künstler nahm in diesen hyperrealistischen Plastiken und Skulpturen das Medium der Fotografie vorweg. Die Idee, einen bestimmten Augenblick festzuhalten, war zu seiner Zeit beileibe nicht neu und eines der Hauptthemen der Kunst seit der Antike. Craggs Ansatz hingegen beruht nicht darauf, einen bestimmten Moment skulptural oder plastisch einzufrieren, sondern er baut auf die evolutionäre Wahrnehmungsveränderung des Menschen. Er behauptet, dass sowohl die Fotografie als auch die neue Computertechnik nicht nur die Kunst immens veränderte, sondern auch die Wahrnehmung der Menschen an sich. Bleibt in der Fotografie die Wiedergabe auf einen bestimmten Moment beschränkt, so eröffnen heutige Computerprogramme die Möglichkeit, Formen zu verändern und die Veränderung in einen zeitlichen Ablauf zu bringen.
Dieses zeitliche Element, dieses „Fließen“ wie Cragg es nennt, wird in seinen Arbeiten in der Orangerie stark sichtbar. Wenn das Auge an einem kleinen Teil einer Plastik ein menschliches Profil erkennt, so wird die Aufmerksamkeit von diesem Punkt über die Oberfläche hinweg auf den Rest des Werkes gerichtet, was ob der Größe sich auch darin ausdrückt, dass man unweigerlich entlang oder um eine Plastik herumwandert. Man erkennt so den vorderen, den mittleren und den abschließenden Teil und erfährt die Streckung als zeitliches Moment, als Zurücklegung einer Entfernung von A nach B. Mir ist es passiert, dass ich beim Betrachten sogar jenes Geräusch hören konnte, das in Filmen das Erscheinen und Verschwinden von fliegenden Wesen begleitet, die wie in einem Flush an einem vorbeiziehen. Und das ist es auch, was Cragg mit der Evolution der Wahrnehmung meint und was ihm in seinen Arbeiten auch tatsächlich gelingt. Es ereignen sich bei der Betrachtung dieser Werke Phänomene wie Assoziationen, Erinnerungen oder auch wie in meinem Fall persönliche Geräuschkulissen im Kopf, die in der Zeit „ante computer“ nicht möglich gewesen wären. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung möchte ich noch an jenen Großmeister verweisen, der die Kunst des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer veränderte, nämlich Marcel Duchamp. Sein „Akt, eine Treppe herabsteigend“ aus dem Jahr 1912 verdeutlicht Craggs bildhauerisches Prinzip mit malerischen Mitteln.
Im Gegensatz zu Duchamp jedoch, der als Begründer der Konzeptkunst angesehen werden kann, in der es ihm auch oft darum ging, keine eigene künstlerische Handschrift mehr zu hinterlassen, sagt Cragg eigentlich genau das Gegenteil. „Jeder Bildhauer möchte eine andere Art der Naturbetrachtung erreichen. Die Natur ist auch wundervoll und interessant und ist auch der Ursprung von allem. Aber schlußendlich müssen wir Bildhauer uns immer in unserer uns ganz eigenen Art und Weise ausdrücken.“ Cragg und Messerschmidt beweisen diesen eigenen, nur ihnen innewohnenden Ausdruck auf besondere Weise in dieser geglückten Ausstellung.
Die Ausstellung läuft noch bis 25. Mai in der Orangerie. Eingang ist das Untere Belvedere, Rennweg 6, Wien.
(c) Ausstellungsbilder Belvedere Wien
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Ich meine, dass Messerschmidt der interessantere Künstler ist – ist aber Ansichtssache.