Theater als demokratiepolitisches Versuchslabor
Michaela Preiner
Es ist noch nicht lange her, dass auf diesem Platz viele, vor allem junge Menschen, ihr Leben lassen mussten. Am 17. Dezember 1989 nahm die blutige Revolution in Rumänien von hier ihren Ausgang und forderte alleine an diesem Tag 63 Tote. Dass die seelischen Wunden, die damals dem Volk in Temesvar zugefügt wurden, noch nicht verheilt sind, darüber wird selten öffentlich gesprochen.
„Piata Victoriei Temeswar“ (Fotos: ECN)
In Temeswar trugen sechs Schauspielerinnen des Ensembles des Deutschen Staatstheaters Temeswar ihre eigenen Viten vor. Vidu hatte mit ihnen im Stückentwicklungsprozess je 12 Stunden Interviews geführt und diese dann auf die wesentlichsten Aussagen gekürzt und dramaturgisch klug zusammengefügt. Hinter den Frauen, die nacheinander einzeln auftraten, wurden Fotos, Dokumente und Zeitungsausschnitte auf die Wand projiziert, welche vor allem ihre vergangenen Lebensumstände visualisierten. Dabei gelang Vidu eine peppige, zeitgeistige Collage, die nicht nur höchst private Einblicke vermittelte. Auch das Rumänien unter Ceausescu, jenes der Revolution und den Jahren danach, wurde so sichtbar.
Es gibt Einzelschicksale, die man erfährt – Lustiges, Trauriges, aber auch viel Verbindendes. Wie der Umstand, dass viele der Frauen die Männer, speziell die Väter, als Abwesende oder als Alkoholiker bezeichneten. Diese Thematisierung beleuchtet zugleich auch ein anderes Faktum. Was der Westen aufgrund von politisch erwünschten und auch kolportierten Erzählungen lange nicht wahrhaben wollte, wird in Vidus Produktionen schonungslos aufgedeckt:
Dass die Frauen im ehemals kommunistisch regierten Osten keineswegs gleichberechtigt waren und sich auch heute noch jedes Stückchen Gleichberechtigung hart erkämpfen müssen. „Ich möchte nicht mit einem Mann zusammen sein, weil man unbedingt verheiratet sein muss“, sagt eine der Protagonistinnen auf der Bühne. Was für westliche Ohren unspektakulär und wie eine Binsenweisheit klingen mag, hat in Rumänien Sprengstoff. „Meine Eltern fragen mich immer wieder, warum ich noch nicht verheiratet bin“, erzählte nach der Aufführung bei der Premierenfeier eine Künstlerin. Auf die Nachfrage, warum sie sich denn nicht locker darüber hinwegsetzen würde, kam die nachvollziehbare Erklärung: „Es geht nicht um mich, sondern darum, dass meine Eltern leiden, dass sie sich ständig für mich rechtfertigen müssen und einen enormen, sozialen Druck verspüren.“
Eigentlich hören sich die Lebensläufe der Schauspielerinnen nicht viel anders an als jene in Österreich oder Deutschland. Und doch schwingt in den Erzählungen oft eine Autoritätsangst mit, die nicht nur politisch bedingt ist. Auch die Meinungsfreiheit, in unseren Breiten längst kein Gut mehr, über das sich die Menschen Sorgen machen, ist in Rumänien noch etwas, das erst seit einer Generation möglich ist und deshalb auch nur zögerlich wahrgenommen wird. Die Selbstermächtigung, sich auf die Bühne zu stellen und korrupte Bürgermeister anzuprangern oder darüber zu sprechen, dass bis heute nicht geklärt ist, warum die russisch-orthodoxe Kirche am Abend der Revolution versperrt war und Menschen in ihr keine Zuflucht vor den schießenden Soldaten finden konnten, verlangt von den Schauspielerinnen viel Kraft und Mut. Ein Umstand, der spürbar ist und mit dazu beiträgt, diese Produktion als etwas Besonders aufzufassen. „Rumänien muss das Normalsein noch erlernen“ – O-Ton einer Schauspielerin, der in aller Kürze jenes Gefühl zusammenfasst, das die Bevölkerung nach wie vor hat, wenn es darum geht, den Weg zu einer funktionierenden, korruptionsfreien Politik zu finden. Vidu lässt ihre Frauen nicht spielen, sie lässt sie aus ihrem Leben erzählen und dadurch eine Stärke gewinnen, die sie aus Rollen, in die sie sonst schlüpfen, nie bekämen.
Das soziale Gefüge in Rumänien, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, folgt nach wie vor strikten Regeln. Das Patriarchat, politische Korruption, Angst vor freier Meinungsäußerung, eine Wirtschaft, die nur schwer in Gang kommt, all das wird selbstverständlich nicht gerne nach außen vermittelt. Aber all das ist der Alltag, mit dem die Menschen umgehen müssen.
Dass Vidu keine Männer auf der Bühne hat, hat nichts mit einem rein feministischen Ausleseverfahren zu tun. Vielmehr haben sich die Männer des Theaters in Temeswar bei der Idee, aus ihrem Leben zu erzählen, höchst unwohl gefühlt und abgelehnt, zum Casting zu kommen. Und so wurde ungeplant, eine Frauen-Power-Show, die es in sich hat.
„Wir arbeiten hauptsächlich über die sozialen Medien. Wer die geschickt bespielen kann, hat seine Säle voll“, weiß Andrea Wolfer, Dramaturgin am Haus, zu berichten. Trotz des kaum vorhandenen Marketing-Budgets beträgt die Auslastung weit über 80 Prozent. Extrem erstaunlich, wenn man den ambitionierten Spielplan bedenkt, in dem viel Dramatik des 20. Jahrhunderts vorkommt.
„Theater in Rumänien wurde bisher nur als kulturelles Freizeitangebot, aber ohne jegliche politische Stellungnahme angeboten. Einen schönen Abend im Theater erleben, das war es, was man bisher dem Menschen angeboten hat.“ Carmen Lidia Vidu, von der dieses Statement stammt, tritt gegen diese Beruhigungspille an und verschärft ihre Gesellschaftswahrnehmung noch: „Die Gleichgültigkeit, die in unseren Gesellschaften heute herrscht, ist die eigentliche Bedrohung der Demokratie.“ Dagegen anzutreten und mit dem Theater aufmerksam zu machen, dass es darum geht, sich einzumischen, sieht sie als ihre Mission. Und hat auch die Hoffnung, damit gesellschaftlich Veränderungsprozesse einleiten zu können.
„Deutsches Staatstheater Temeswar“ (Fotos: ECN)
Das Deutsche Staatstheater Temeswar bedient eine deutschsprachige Minderheit, die derzeit ca. 6.000 Personen umfasst. Die Qualität der Schauspielerinnen, die bei der Temeswar-Inszenierung von Vidu sichtbar wurde, aber auch die Tatsache an sich, dass dieses Theater einen vollen Spielbetrieb vorzuweisen hat, macht klar: Die Kunstform Theater wird in Temeswar als Grundbedürfnis verstanden, das es ermöglicht, über die conditio humana nachzudenken und gleichzeitig gesellschaftspolitische Beiträge zu leisten, die abseits ökonomischer Relevanz vollzogen werden müssen.
Auf der Bühne brillierten: Ida Jarcsek-Gaza, Tatiana Sessler-Toami, Daniela Török, Ioana Iacob, Olga Török und Silvia Török.
Webseite Deutsches Staatstheater Temeswar.