Theater als demokratiepolitisches Versuchslabor

Michaela Preiner

„Rumänisches Tagebuch – Temeswar“ (Foto: Deutsches Staatstheater Temeswar • Teatrul German de Stat Timisoara)
25.
Oktober 2018
Der Prachtboulevard entlang der Piata Victoriei von Temeswar ist großzügig begrünt. Tauben lassen sich ungeniert vor den Menschen nieder, die es sich auf den sonnigen Parkbänken gemütlich gemacht haben. Rabatte mit bunten, blühenden Blumen erwecken den Eindruck einer prosperierenden Stadt. Auf der einen Seite endet die Prachtstraße mit dem großen, Gebäude in neubyzantinisch-neoromanischem Stil.
In ihm sind gleich vier theatrale Spielstätten untergebracht, worauf Temeswar sehr stolz ist. Es ist das Haus, in dem sich die Oper, das Rumänische Staatstheater, das Ungarische Staatstheater und das Deutsche Staatstheater Temesvar befinden. Keine andere Stadt in Europa kann mit einer ähnlichen, kulturellen Veranstalter-Ballung unter einem Dach aufwarten. Gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, steht, auf einigen Stufen erhaben, die russisch-orthodoxe Kirche.

Es ist noch nicht lange her, dass auf diesem Platz viele, vor allem junge Menschen, ihr Leben lassen mussten. Am 17. Dezember 1989 nahm die blutige Revolution in Rumänien von hier ihren Ausgang und forderte alleine an diesem Tag 63 Tote. Dass die seelischen Wunden, die damals dem Volk in Temesvar zugefügt wurden, noch nicht verheilt sind, darüber wird selten öffentlich gesprochen.

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„Piata Victoriei Temeswar“ (Fotos: ECN)

Eine Ausnahme ist die Produktion „Rumänisches Tagebuch – Temeswar“ von Carmen Lidia Vidu. Einer Stückentwicklung, die einen Zyklus von insgesamt drei Theaterabenden abschließt. Vidu, ursprünglich Medienkünstlerin, wechselte nach einer Brandkatastrophe in einer Diskothek in Bukarest das künstlerische Fach und wurde zur Autorin und Regisseurin. Damals wollte sie darauf aufmerksam machen, dass niemand die politische Verantwortung für das grausige Geschehen übernehmen wollte. Über Missstände zu reden, über die in der rumänischen Gesellschaft nicht gerne gesprochen wird, ist eine ihrer Stärken und zugleich wohl auch eine Art Berufung. Denn je öfter sie sich in die Tiefen der sozialen Ungerechtigkeiten begibt, umso stärker werden auch ihre Stücke. „Man kann nichts heilen, was nicht diagnostiziert wurde,“ lässt sie eine der Frauen in dem „Tagebuch Rumänien – Temeswar“ sagen und weist damit auf die nach wie vor praktizierte Vertuschungspraxis hin, wenn es um politische Verantwortungsübernahmen geht.

In Temeswar trugen sechs Schauspielerinnen des Ensembles des Deutschen Staatstheaters Temeswar ihre eigenen Viten vor. Vidu hatte mit ihnen im Stückentwicklungsprozess je 12 Stunden Interviews geführt und diese dann auf die wesentlichsten Aussagen gekürzt und dramaturgisch klug zusammengefügt. Hinter den Frauen, die nacheinander einzeln auftraten, wurden Fotos, Dokumente und Zeitungsausschnitte auf die Wand projiziert, welche vor allem ihre vergangenen Lebensumstände visualisierten. Dabei gelang Vidu eine peppige, zeitgeistige Collage, die nicht nur höchst private Einblicke vermittelte. Auch das Rumänien unter Ceausescu, jenes der Revolution und den Jahren danach, wurde so sichtbar.

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„Rumänisches Tagebuch – Temeswar“ (Foto: Deutsches Staatstheater Temeswar • Teatrul German de Stat Timisoara)
In Österreich ist es das Aktionstheaterensemble, das sich seit geraumer Zeit einer ähnlichen Art von Theater verschrieben hat. Gemeinsam wird auch dort mit dem Ensemble die jeweilige Produktion erarbeitet, wobei Martin Gruber, Spiritus rector des Aktionstheater Ensembles, jeden Abend einem eigenen Thema widmet. Vidus „Rumänische Tagebücher“ sind dennoch etwas Anderes. Nicht nur, dass in Rumänien die Postdramatik noch nicht wirklich in der Mitte der Theaterlandschaft angekommen ist. Wenn man sich Vidus Abende ansieht – die ersten beiden wurden mit deutschen Übertiteln im Schauspielhaus in Wien 2017 gezeigt – taucht man in Erzählungen ein, über die man nicht nur die jeweils Agierenden, sondern vor allem auch Rumänien kennenlernen kann, wie es sonst so wohl nicht möglich wäre.

Es gibt Einzelschicksale, die man erfährt – Lustiges, Trauriges, aber auch viel Verbindendes. Wie der Umstand, dass viele der Frauen die Männer, speziell die Väter, als Abwesende oder als Alkoholiker bezeichneten. Diese Thematisierung beleuchtet zugleich auch ein anderes Faktum. Was der Westen aufgrund von politisch erwünschten und auch kolportierten Erzählungen lange nicht wahrhaben wollte, wird in Vidus Produktionen schonungslos aufgedeckt:

Dass die Frauen im ehemals kommunistisch regierten Osten keineswegs gleichberechtigt waren und sich auch heute noch jedes Stückchen Gleichberechtigung hart erkämpfen müssen. „Ich möchte nicht mit einem Mann zusammen sein, weil man unbedingt verheiratet sein muss“, sagt eine der Protagonistinnen auf der Bühne. Was für westliche Ohren unspektakulär und wie eine Binsenweisheit klingen mag, hat in Rumänien Sprengstoff. „Meine Eltern fragen mich immer wieder, warum ich noch nicht verheiratet bin“, erzählte nach der Aufführung bei der Premierenfeier eine Künstlerin. Auf die Nachfrage, warum sie sich denn nicht locker darüber hinwegsetzen würde, kam die nachvollziehbare Erklärung: „Es geht nicht um mich, sondern darum, dass meine Eltern leiden, dass sie sich ständig für mich rechtfertigen müssen und einen enormen, sozialen Druck verspüren.“

Eigentlich hören sich die Lebensläufe der Schauspielerinnen nicht viel anders an als jene in Österreich oder Deutschland. Und doch schwingt in den Erzählungen oft eine Autoritätsangst mit, die nicht nur politisch bedingt ist. Auch die Meinungsfreiheit, in unseren Breiten längst kein Gut mehr, über das sich die Menschen Sorgen machen, ist in Rumänien noch etwas, das erst seit einer Generation möglich ist und deshalb auch nur zögerlich wahrgenommen wird. Die Selbstermächtigung, sich auf die Bühne zu stellen und korrupte Bürgermeister anzuprangern oder darüber zu sprechen, dass bis heute nicht geklärt ist, warum die russisch-orthodoxe Kirche am Abend der Revolution versperrt war und Menschen in ihr keine Zuflucht vor den schießenden Soldaten finden konnten, verlangt von den Schauspielerinnen viel Kraft und Mut. Ein Umstand, der spürbar ist und mit dazu beiträgt, diese Produktion als etwas Besonders aufzufassen. „Rumänien muss das Normalsein noch erlernen“ – O-Ton einer Schauspielerin, der in aller Kürze jenes Gefühl zusammenfasst, das die Bevölkerung nach wie vor hat, wenn es darum geht, den Weg zu einer funktionierenden, korruptionsfreien Politik zu finden. Vidu lässt ihre Frauen nicht spielen, sie lässt sie aus ihrem Leben erzählen und dadurch eine Stärke gewinnen, die sie aus Rollen, in die sie sonst schlüpfen, nie bekämen.

Das soziale Gefüge in Rumänien, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, folgt nach wie vor strikten Regeln. Das Patriarchat, politische Korruption, Angst vor freier Meinungsäußerung, eine Wirtschaft, die nur schwer in Gang kommt, all das wird selbstverständlich nicht gerne nach außen vermittelt. Aber all das ist der Alltag, mit dem die Menschen umgehen müssen.

Dass Vidu keine Männer auf der Bühne hat, hat nichts mit einem rein feministischen Ausleseverfahren zu tun. Vielmehr haben sich die Männer des Theaters in Temeswar bei der Idee, aus ihrem Leben zu erzählen, höchst unwohl gefühlt und abgelehnt, zum Casting zu kommen. Und so wurde ungeplant, eine Frauen-Power-Show, die es in sich hat.

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„Rumänisches Tagebuch – Temeswar“ (Foto: Deutsches Staatstheater Temeswar • Teatrul German de Stat Timisoara)
Das Deutsche Staatstheater in Temeswar erlebt derzeit ein Intendanzvakuum. Dem von einem Tag auf den anderen abgesetzten Intendanten folgte bislang keine Nachbesetzung, aber die Angestellten fühlen sich der Bühne so verpflichtet, dass sie kurzerhand Direktionsaufgaben übernommen haben und selbst Spielpläne kreieren und auf die Beine stellen. Bemerkenswert ist auch die Virilität, die diese Spielstätte ausstrahlt. Durch die Infrastruktur des gemeinsamen Hauses kann auf einen großen Apparat mit Malersaal, Kostüm- und Maskenbildnern und allen sonstigen technischen Einrichtungen zurückgegriffen werden, Ressourcen, die sich kleinere Theater nur erträumen können. Nur für Werbung ist kein Geld vorhanden.

„Wir arbeiten hauptsächlich über die sozialen Medien. Wer die geschickt bespielen kann, hat seine Säle voll“, weiß Andrea Wolfer, Dramaturgin am Haus, zu berichten. Trotz des kaum vorhandenen Marketing-Budgets beträgt die Auslastung weit über 80 Prozent. Extrem erstaunlich, wenn man den ambitionierten Spielplan bedenkt, in dem viel Dramatik des 20. Jahrhunderts vorkommt.

„Theater in Rumänien wurde bisher nur als kulturelles Freizeitangebot, aber ohne jegliche politische Stellungnahme angeboten. Einen schönen Abend im Theater erleben, das war es, was man bisher dem Menschen angeboten hat.“ Carmen Lidia Vidu, von der dieses Statement stammt, tritt gegen diese Beruhigungspille an und verschärft ihre Gesellschaftswahrnehmung noch: „Die Gleichgültigkeit, die in unseren Gesellschaften heute herrscht, ist die eigentliche Bedrohung der Demokratie.“ Dagegen anzutreten und mit dem Theater aufmerksam zu machen, dass es darum geht, sich einzumischen, sieht sie als ihre Mission. Und hat auch die Hoffnung, damit gesellschaftlich Veränderungsprozesse einleiten zu können.

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„Deutsches Staatstheater Temeswar“ (Fotos: ECN)

Das Deutsche Theater in Temeswar zeigte mit der Trilogie „Tagebuch Rumänien“ einen aktuellen Zustandsbericht eines gar nicht so kleinen Teiles der rumänischen Gesellschaft. Die Aneinanderreihung vieler persönlicher Schicksale, die individuellen Höhen und Tiefen im Leben, die Sichtbar- und Fühlbarmachung von Ängsten und Freuden verschiedener Generationen,  ergeben ein buntes, zugleich aber auch extrem stimmiges Kaleidoskop. Einen Ist-Zustand, der wesentlich mehr aussagt, als eine einzelne, erzählte Geschichte und damit tatsächlich gesellschaftliche Relevanz aufweist. Vidus drei Abende bieten auch die Möglichkeit, Demokratie in einer Art Versuchslabor innerhalb des Schutzraumes Theater so zu praktizieren, wie sie eigentlich gedacht ist. Als Raum, in dem man sich frei von Angst und öffentlich mit dem Ziel äußern kann, Diskurse in Gang zu bringen, die letztlich ein friedliches Zusammenleben einer heterogenen Gesellschaft erst möglich machen.

Das Deutsche Staatstheater Temeswar bedient eine deutschsprachige Minderheit, die derzeit ca. 6.000 Personen umfasst. Die Qualität der Schauspielerinnen, die bei der Temeswar-Inszenierung von Vidu sichtbar wurde, aber auch die Tatsache an sich, dass dieses Theater einen vollen Spielbetrieb vorzuweisen hat, macht klar: Die Kunstform Theater wird in Temeswar als Grundbedürfnis verstanden, das es ermöglicht, über die conditio humana nachzudenken und gleichzeitig gesellschaftspolitische Beiträge zu leisten, die abseits ökonomischer Relevanz vollzogen werden müssen.  

Auf der Bühne brillierten: Ida Jarcsek-Gaza, Tatiana Sessler-Toami, Daniela Török, Ioana Iacob, Olga Török und Silvia Török.

Webseite Deutsches Staatstheater Temeswar.

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