Das Licht verlischt und im selben Moment erschreckt ein grauenhafter Lärm aus den Lautsprechern das gesamte Publikum. Ein nicht enden wollendes akustisches Inferno lässt alle für eine gefühlsmäßig lange Zeit im Ungewissen, nur ganz langsam kehrt Licht auf die Bühne. Der Schrecken sitzt noch lange in den Knochen, verflüchtigt sich langsam, kehrt aber wieder zurück. Doch davon später.
Sie kommen von einem anderen Erdteil, aus einer anderen Kultur. Sie zeigen uns in der komprimierten Form von bildhaften Metaphern die Auslöschung ihrer Kultur und doch mischt sich beim Publikum das Unbehagen hinzu, dass dieses grauenerregende Spiel auch uns angeht. „Sie“, das sind die maorischen Schauspieler bzw. Tänzer der Gruppe MAU unter der Leitung von Lemi Ponifasio. Eine Truppe von 10 Männern und einer Frau, die in einprägsamen Bildern und einem langsamen Ablauftempo den Zusehern zeigen, was sie meist nicht sehen wollen. Zerstörung einer Kultur von außen, Zerstörung eben dieser Kultur aber auch durch Ignoranz von innen. Bis nichts mehr bleibt als Schutt. Ein, bis auf eine Ausnahme wortloses Spektakel, das streckenweise mehr musealen als theaterhaften Charakter trägt. So prägnant sind die evozierten Bilder, so langsam die Bewegungen einiger Darsteller, dass sie wie in Zeitlupe wahrgenommen werden oder sich durch x-fache Wiederholung im Kopf verankern. Wie zum Beispiel der Auftritt des Tiermenschen auf allen Vieren. Langsam betritt er die Bühne, wie ein durch den Dschungel schreitendes Raubtier. Die Handrücken seiner Hände dienen ihm als Pfotenstütze, seine Knie bleiben steif, seine langsamen Schritte und eindringlichen Blicke lassen vergessen, dass sich hier ein Mensch auf der Bühne bewegt. Mehrfach dreht er große Kreise, sieht öfter eindrücklich ins Publikum, was nicht seine beängstigende Wirkung verfehlt – und legt sich schließlich zum Sterben auf den Boden. Das kleine, weibliche Vögelchen (der Engel der Zeiten), bis dahin als harmloses Wesen gekennzeichnet, mutiert plötzlich zum Aasfresser und zieht den leblosen Körper aus dem Scheinwerferlicht von der Bühne. Zwar hat es das Publikum mit eindringlichen Schreien zu Beginn des Stückes erschreckt, doch die Erkenntnis, dass dies offenbar artbedingte Äußerungen waren, die sich scheinbar nicht auf das Geschehn bezogen, beruhigte die Gemüter rasch. Dies ist nicht die einzige Verstörung, mit der der junge Regisseur Lemi Ponifasio arbeitet. Der nackte Mann, den er wie eine Raupe über einen von innen beleuchteten Glassteg sich fast unmerklich rücklings fortbewegen lässt, beeindruckt durch seinen wohlgeformten Körperbau. Doch alle Schönheit bleibt weit hinter seiner Hilflosigkeit, die auch ihn schließlich in den Tod gleiten lässt. Wie er mit den Füßen voran vom Glaspodium ins schwarze Nichts gezogen wird, bleibt als Bild im Kopf, so als hätte man ein überdimensionales Photo in einem Museum für zeitgenössische Kunst gesehen. Eine starke Metapher, die das gesamte Menschengeschlecht repräsentiert, nicht nur jene der Maori.
Tempest – without a body ist eine einzige Apokalypse in Grau und Schwarz mit einem temporären Blutgedächtnis – wenn sich die überdimensionierte große Tafel, die mit gecrashter, grauer Seide überspannt scheint, und die über den Köpfen der Darsteller wie ein Riesenbild ohne Darstellung hängt, plötzlich blutrot einfärbt. An ihrer Seite hat der kleine, weibliche Vogel, der in Abständen immer wieder auftaucht, um in langsamen Schritten das Terrain zu durchschreiten, mahnend seine verletzte Hand, bzw. Klaue erhoben. Doch das Blut und Vernichtung evozierende Bild ist noch nicht das Ende. Noch laufen die in lange, schwarze Gewänder gekleideten Männer in Gruppen oder auch alleine mit kleinsten, aber sehr raschen Trippelschritten über die Bühne und exerzieren mechanisch ihre eingeübten, rituellen Tänze. Sie sind bis zum Schluss das einzige Kontinuum, das das Geschehen wie einen „schwarzen“ Faden durchzieht. Nichts scheint sie aus der Fassung zu bringen, aber sie nehmen auch von nichts Notiz. Als Tame Iti, ein beeindruckender, älterer Maori die Bühne betritt, verschwinden sie und machen seinem Gesang Platz. Die Augen rot geschminkt, in einem grauen, westlichen Businessanzug gesteckt, wirkt er wie ein Zwitterwesen zweier Kulturen. Seine durch ausdrucksstarke Gesten begleitete Litanei beschwört eine andere Zeit, längst vergangene Begebenheiten aus der Geschichte dieses Volkes, das sich – der graue Anzug macht es überdeutlich – längst von seinen Traditionen in die importierte, westliche Zivilisation verabschiedet hat. Mit Tame Iti hat Ponifasio eine Persönlichkeit für sein Stück gewinnen können, die in Neuseeland an vorderster Front für die Unabhängigkeit der Maori kämpft. Er kann nur aufgrund einer Ausnahmeregelung mit MAU auf Tournee gehen, denn wegen eines von ihm abgegebenen Schusses mit einer Schrotflinte auf eine neuseeländische Fahne wurde er als Terrorist eingestuft und mit Ausreiseverbot belegt. Dies allein zeigt auch die politische Brisanz, die hinter dieser Aufführung steckt.
Die Frage, wie das Elend einer Kultur, die im Begriff ist zu verschwinden, sichtbar gemacht werden kann, beantwortet der aus Samoa stammende Lemi Ponifasio mit „Tempest“ aufs Eindringlichste. Mit seinen metaphorischen Bildern, tief in der eigenen Kultur verwurzelt, macht er aufmerksam auf das, was über jahrtausende Bestand hatte und verloren gegangen ist. Selbst strenge Rituale wie jene der Haka maori ändern nichts an dieser Auflösung.
Nach der akustischen Eingangsdramatik und den unerwarteten, schrillen Vogelschreien ist es der Auftritt eines groß gewachsenen Maori, der gegen Ende des Stückes das Publikum noch einmal in Angst und Schrecken versetzt. Er hebt eine starke, weiße Platte langsam in Position über seinen Kopf und zertrümmert sie auf seinem glatten Schädel, sodass sie in tausend Scherben zerbricht. Von einer Sekunde zur anderen ist er in geisterhaftes Weiß gehüllt. Diese Aktion löst bei den rituellen Tänzern einen wahren Dammbruch aus. Einer nach dem anderen bringt eine weitere Gipsplatte auf die Bühne und wie in einem finalen, furiosen Untergangsrausch zerschlagen sie alle mit Wucht, bis nur mehr Schutt übrig bleibt. Erst, als nur mehr Chaos herrscht, erstarren auch sie.
Was bleibt ist Betroffenheit und Verstörung. Vor allem weil es Ponifasio gelang, eine Untergangsstimmung zu schaffen, die nicht nur die Maori betrifft, sondern mittlerweile alle Kulturen auf unserer Erde, inklusive unserer eigenen. Bessere Botschafter als Tame Iti sowie das gesamte Ensemble können sich die Maori weltweit wohl nicht wünschen. Ihnen gelingt es, ihren Status quo ohne Beschönigung, ohne Sentimentalität und ohne erhobenen Zeigefinger punktgenau vorzuführen. Ein extrem komplexes und zugleich dennoch ganz, ganz einfaches Stück, das ganz tief berührt und zum Nachdenken anstößt. Lemi – go on and touch the world as hard as you can!
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