Tanzen ohne Gebrauchsanleitung

Tanzen ohne Gebrauchsanleitung

Elisabeth Ritonja

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17.

Januar 2014

Wer Tanz im klassischen Sinne versteht, denkt sofort an eine strikte, kunstvolle Choreografie, der sich alle Tänzerinnen und Tänzer unterwerfen müssen. Tanz seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch allmählich ganz im demokratischen Sinne von der Alleinherrschaft einer einzigen kreativen und direktiven Person hin zu einem kollektiven Geschehen entwickelt, für das alle […]

Wer Tanz im klassischen Sinne versteht, denkt sofort an eine strikte, kunstvolle Choreografie, der sich alle Tänzerinnen und Tänzer unterwerfen müssen.

Tanz seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch allmählich ganz im demokratischen Sinne von der Alleinherrschaft einer einzigen kreativen und direktiven Person hin zu einem kollektiven Geschehen entwickelt, für das alle auf der Bühne verantwortlich zeichnen. Ein solches Tanzgeschehen konnte man am 10. und 11. Jänner im Tanzquartier in Wien sehen. Oleg Soulimenko rief dazu auf, und viele kamen. Der in Wien längst etablierte Choreograf entwickelte mit einigen Profis und vielen Laien ein Stück mit dem Titel „The dance I don`t want to remember“ und machte nicht nur deutlich, dass Tanz in jedem von uns sitzt, sondern vor allem auch, dass es nicht eines einzigen Vordenkers bedarf, um einen Tanzabend zu gestalten.

Bei zeitgenössischen Tanzproduktionen ist es oft ratsam, völlig unvoreingenommen in die Vorstellung zu gehen, ohne jegliche Vorkenntnisse und das Geschehen einfach auf sich wirken zu lassen. An diesem Abend war die kurze Einführung im Programmheft jedoch sehr hilfreich. „Eine Gruppe von TänzerInnen entwickelt ihre Bewegungen ausgehend von einschneidenden, selbst erlebten oder gesammelten Tanzerinnerungen“ war dort zu lesen. Und tatsächlich sind im selben Heft nicht nur Soulimenko als Choreograf angeführt, sondern drei weitere Personen sowie „GasttänzerInnen aus Wien“. Soulimenkos Arbeit ist nicht nur für die Akteurinnen und Akteure herausfordernd, sondern auch für das Publikum. Geht es doch in seinen Stücken nicht darum, eine Geschichte stringent durchzuerzählen, sondern vielmehr viele Einzelpositionen zu einem Thema zusammenzufassen und stückwerkhaft nebeneinander stehen zu lassen. Damit agiert er ganz im postmodernen Sinne der Vermeidung einer großen Erzählung. Wenn man sich darauf nicht einlässt, kann das Gefühl aufkommen, das Stück sei unfertig, halb oder nicht stringent in seiner Dramaturgie durchdacht. Wenn man aber Soulimenkos Idee folgt, dann erlebt man ein großes Kaleidoskop von Ideen und deren Ausführungen. Je nachdem, von wem sie getanzt sind erscheinen diese dann hochprofessionell oder aber auch laienhaft.

Anders als bei vielen zeitgenössischen Stücken, die mittlerweile gänzlich ohne Bühnenrequisiten auskommen, leistete sich die Produktion einen Bühnen- und Kostümprofi. Dieser war maßgeblich daran beteiligt, dass seine Interventionen dem Publikum einen bunten Faden durch das Geschehen anboten, an dem man sich gefühlsmäßig teilweise zumindest anhalten konnte. Das tänzerische Geschehen durfte „daneben“ schon einmal außer Rand und Band geraten, Alfredo Barsuglias künstlerische Hinweise boten, trotz ständiger Veränderung, dennoch ein gewisses Erzählgerüst.

Ganz zu Beginn schon waren es seine feinen, filigranen Skulpturen aus Holzästen und dicken, weißen Kabeln, die Markierungen auf der Bühne darstellten. Schon bald entwickelten sich diese aber zu Objekten, mit welchen die Tänzerinnen und Tänzer spielten, sie veränderten und auch anders positionierten. Ein großes, schwarzes Netz, das im hinteren Teil über der Bühne schwebte, erlangte Bedeutung, als an einem mit ihm verbundenen Seil gezogen wurde. Das führte dazu, dass sich auf dem Boden ein langsam bewegtes Schattenspiel zeigte. Am auffälligsten jedoch und zugleich am wandelbarsten waren all jene Bodenmarkierungen, die von den Tänzerinnen und Tänzern im Laufe des Abends angebracht und teilweise auch wieder weggenommen wurden. Mit diesen, auf der Bühne für das Publikum meist nicht sichtbaren Positionsmarken, entwickelte sich ein eigenes dynamisches Spiel. Sie bestanden nicht nur aus kleinen Klebestreifen, sondern durften auch als Sterne oder andere geometrische Formen in Erscheinung treten, knallorange, rot und blau. Auch kleine Wimpel in bunten Farben, überzogen bald die gesamte Tanzfläche und zum großen Spaß des Publikums löste der ganz in Rot gewandete Evandro Pedroni die drei vermeintlichen weißen Streifen seiner Adidashose auf jeder Seite, um auch diese am Boden aufzukleben. So wandelte sich flugs der Tanzboden in ein Basketballfeld und wieder retour. Interessant, welche Auswirkung auch nur kleine optische Eingriffe ins Geschehen auf der Bühne auf die Wahrnehmung haben können. Pedroni, der bei seinem ersten Auftritt an Händen und Füßen mit langen roten Stecken verbunden war und dadurch wie eine Marionette wirkte, war neben Milan Loviška und Olivia Schellander einer der Hauptakteure des Abends. Rot, Schwarz und Weiß waren ihre Kostümfarben, wobei sich das „Kostüm“ beim jungen Tschechen Loviška auf eine Feinrippunterhose beschränkte. Auch die Kostüme waren einem Wandel unterzogen. So durfte sich ein Ärmel des grobmaschigen schwarzen Pullovers von Schellander während eines ihrer Soli langsam auflösen, Pedroni verlor seine an ihm haftenden Stäbe, einzig Loviškas Unterhose blieb unverändert. Der athletische junge Tscheche hatte zum Beginn des Stückes eine körperliche Schwerarbeit abzuliefern, verblieb er doch eine gefühlte Ewigkeit mit abgewinkelten Beinen am Boden liegend im Schulterstand. Soulimenkos Tanzverständnis – so zeigte sich – beinhaltet mehr als nur eingeübte Schrittfolgen. Seinen Höhepunkt erreichte der Abend, als sich plötzlich ohne ein hörbares Kommando ungefähr 20 Menschen aus dem Publikum von ihren Sitzen erhoben und auf die Bühne marschierten. Dort hatte sich kurz zuvor ein älterer Herr als DJ betätigt und Dean Martins Evergreen „Memories are made of this“ auf den Plattenteller gelegt. Nun wurde klar, was mit der Erinnerung an Tanzmomente gemeint war, wurde doch ganz individuell Schuhgeplattelt, einfache Tanzschritte gezählt, wie man sie im Gesellschaftstanz der Tanzschulen erlernt oder auch hemmungslos der ganze Körper durchgeschüttelt, wohl in Reminiszenz an heiße Discoabende. Wieder andere machten Sprungübungen die dem klassischen Ballett zuzuordnen waren oder Exerzierübungen, die sich wohl tief ins Körpergedächnis eingeprägt haben. Beinahe unüberschaubar war die Fülle an dem, was individuell hier dargeboten wurde. Danach durften zwar noch einmal die Profis ans Werk – nun gänzlich unerwartet in gemeinsamen Choreografien die vor allem akrobatische Elemente beinhalteten, die Botschaft jedoch, was Tanz ist und was er in uns bewirken kann, war zuvor schon gesetzt.

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