Staub über alles

Während man die Treppen zum sogenannten „grafischen Kabinett“ im Obergeschoß der Secession erklimmt, erblickt man ein Foto, das verstört. Darauf ist eine dunkelhäutige Frau zu sehen. In der einen Hand einen Besen, neben ihr einen Eimer, in den sie einen Fuß gestellt hat. Dahinter wächst ein Felsen in den Raum, von dem sonst nicht viel zu sehen ist. Der Gesichtsausdruck der Frau ist schwer zu deuten. Und man hat auch nicht lange Zeit darüber nachzudenken, der Platz auf der Treppe ist unbequem und verleitet zum raschen Weitergehen. Oben angekommen wird man auf eine sonderbare, aber ästhetisch unglaublich harmonische Anordnung aufmerksam. Vielleicht nicht jeder oder jede, wahrscheinlich nur all jene, welche die Räume öfter besuchen und wissen, dass die Glasvitrine vor dem Eingang in den Raum bei Ausstellungen immer unterschiedlich genutzt wird, werden sie als Kunstwerk wahrnehmen. Hinter Glas befinden sich insgesamt wohl geordnet 4.000 Zündholzschachteln, deren Einschlichtung ein grafisches Muster ergeben haben. Von den allermeisten ist nur jene Seite sichtbar, an welcher man die Zündhölzer anzünden kann. Und beim ganz genauen Hinsehen werden dabei jene Spuren bemerkbar, die auf jeder Schachtel ein einzelnes Zündholz hinterlassen hat. In den Schachteln selbst – nicht sichtbar – befinden sich die restlichen Zündhölzer. Das, was davon übrigbleibt, wenn ein Zündholz abgebrannt ist, jene schwarze, rußige Masse spiegelt sich im gegenüberliegenden kleinen Kabinett in großem Ausmaß wieder. Das Betreten des Raumes selbst ist nur maximal fünf Personen gleichzeitig gestattet, wenn man jedoch das Glück hat, alleine zu sein, so sollte man sich diese Erfahrung ruhig gönnen.

Das schwarze Kabinett

Darin hat die junge Brasilianerin Cinthia Marcelle jede Menge schwarzen Staub verteilt. Staub, der bedrohlich schwarz von der Decke und vom Boden mit einer Kraft auf die Sinne wirkt, dass man sich einer gewissen Beklemmung nicht erwehren kann. „Wir haben den Raum mit Planen abgehängt und ich habe mit einem Druckluftgerät den Staub im Raum verteilt. Dabei musste ich zwischendurch immer wieder warten, bis sich der Staub setzte, um dann die nächste Schicht aufzutragen“. Die Künstlerin spricht gerne über das Entstehen der Installation selbst. „Über den Inhalt selbst mag ich nicht so gerne sprechen, „mir ist es lieb, wenn sich die Menschen selbst eine Meinung bilden“. Das Verblüffende für Marcelle war, dass der eingeblasene Staub sich unterschiedlich im Raum verteilte und vor allem, dass er die Ecken auslies. Auf diese Weise entstand so etwas wie das „Negativ“ eines Raumes, das jedoch im Raum selbst begründet ist. Die Künstlerin spielt gerne mit den Vorstellungen von Innen und Außen und so ließ sie einen schmalen Streifen des Fischgrät-Parkettbodens frei, auf dem man entlanggeht, um den Raum auf sich wirken zu lassen. „Es ist ein Raum im Raum“, erklärt sie weiter, „etwas, das ich sehr gerne in meinen Arbeiten behandle.“ Das Schwarz der Flächen, das durch das verwendete Pigment samtig und damit zugleich extrem tief wirkt, ist für die Künstlerin eine sichtbar gewordene Manifestation der Zeit. Wer kennt sie nicht, jene staubbedeckten, schwer zugänglichen kleinen Ecken in unserer aller Wohnungen und Häuser, die sich dann bilden, wenn lange keine Säuberungsaktion erfolgte. Es ist das Phänomen der Zeit an sich, das Marcelle hier in einem vielschichtigen Kunstwerk auftreten lässt. Aber es ist auch der Eingriff des Menschen, der sich dieser Zeit zumindest für wenige Momente, entgegenstemmt. „Für mich sind die Putzfrauen die wahren Helden“, fügt Marcelle ihren Erklärungen hinzu. „Sie haben den kleinen Korridor am Boden geschaffen, auf dem man gehen kann“. Zugleich haben sie dem Raum ein Stück Zeit abgetrotzt. Zeit investierte die junge Brasilianerin auch im Abbrennen von 4.000 Streichhölzern. Eine Arbeit, die sich in jenen Spuren auf den Schachteln zeigt, welche nur durch genaues Hinsehen erkennbar werden. Das Zündholz und seine Vergänglichkeit sie stehen hier vielleicht sogar als menschliche Metapher? Und die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher selbst? Jede und jeder Einzelne von ihnen bringt sich selbst in den Raum ein. Mit den Gedanken, mit den Ideen, mit den Erkenntnissen, die darin gewonnen werden. Und alle bringen etwas mit, das im kleinen grafischen Kabinett derzeit wie eingefroren erscheint: Ein wenig Zeit, mit dem sie diesen Ort aufladen.

Im kommenden Jahr wird die Japanerin Chiharu Shiota ihr Land auf der Biennale in Venedig vertreten. Ähnlich wie Marcelle taucht auch sie ganze Räume ins Dunkel. Allerdings arbeitet sie mit einem ganz anderen Material. Ihre dichten aus schwarzen Fäden gefertigten Verspannungen behindern den Zutritt teilweise und evozieren ähnliche Assoziationen wie es der Staub-Raum von Marcelle tut. Es scheint, als ob sich das Luzide, das Träumerische, Unbewusste auf ein Neues in die Kunstgeschichte einzuschreiben beginnt.

Ein Kunst-Buch, das Erinnerungen hervorruft

Und so, als wäre die Installation alleine noch nicht beredt genug, fügte Cinthia Marcelle ihrem Auftritt in Wien noch eine weitere Arbeit hinzu. Es entstand ein Buch – Katalog wäre die falsche Bezeichnung – ein Künstlerbuch, das sie gestaltete. Außen weiß, mit einem leicht schwarz verwischten Rand, kündet es ein wenig vom Innenleben. Cinthia Marcelle – The Tempest – ist klein auf der ersten Seite im linken oberen Rand zu lesen. Und tatsächlich war Giorgiones rätselhaftes „Sturm“- Bild der Ausgangspunkt zu dieser Arbeit. Das Bild, das ikonographisch so schwer zu entziffern ist, weil es Figurengruppen und Vorder- und Hintergründe zeigt, die in ihrem Zusammenhang nicht zu enträtseln sind, bildete den gedanklichen Anstoß 78 Frottagen zu erstellen, die mehr ver- als enthüllen. Es sind mit Bleistift erzeugte grafische Abdrücke übereinander liegender Blätter, die unterschiedlich gefaltet wurden. Reproduziert und im Buch zusammengefasst, ergibt sich in der Zusammenschau ein kleiner Falt-Kosmos. Gerade durch die Verschleierung eines etwaigen Textes, der sich auf den Blättern befand, liegt dabei das Hauptaugenmerk auf der Form der einzelnen Faltungen. Zugleich wird auf einer eher intuitiven Ebene das Erfassen jener Zeit möglich, welche die Künstlerin für diesen Prozess benötigte. Wir alle können uns noch gut an jene ersten Frottagen erinnern, die wir als Kinder staunend von Münzen abnahmen. Das Gefühl, ein kleines Relief unter den eigenen Fingerspitzen zu spüren und es durch Schraffur auf Papier sichtbar zu machen, war erhebend. Kontemplativ, manchmal mit starkem Druck, manchmal nur ganz schwach, wurde dieses künstlerische Medium ausgelotet, ja beinahe ausgekostet und gerade diese eigene sinnliche Erfahrung eröffnet einen ganz persönlichen Zugang zu Marcelles Arbeit. Es wird vorstellbar, was Marcelle bei ihrer Arbeit selbst verspürt haben mag. Welche optischen Sensationen sie wieder und wieder zu neuen Abwandlungen vorantrieb und wie groß jedes Mal von Neuem die Freude und das Staunen über ein gelungenes Blatt gewesen sein dürfte.

Mit diesem kleinen, feinen Buch stellt die Künstlerin ihrer gewichtigen Zeit-Installation so etwas wie ein persönliches Statement gegenüber. Die alles verschlingende Zeit, die alles mit Staub bedeckt, kann nur dann menschlich gemessen und erfasst werden, wenn sie mit Tun, mit Aktion, mit Arbeit angefüllt wird, die Spuren hinterlässt.

Die Annäherung an Marcelles Werk ist vielfältig möglich, jede Betrachtung zwangsläufig eine subjektive. Emilio Maciels Zugang zur Installation im grafischen Kabinett, ist als informativer Text ihren Arbeiten im Buch nachgestellt.

Zu sehen noch bis zum 2. November in der Secession in Wien

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