Sie sitzen in einem Raumschiff, um sich von der Erde zu entfernen, auf der das menschliche Leben offenbar keinen Platz mehr finden kann. Ein Häuflein Menschen, im Irrglauben, dadurch am Leben bleiben zu können. Im Schauspielhaus Graz macht sich das Publikum fröhlich mit auf ihre Reise ins endgültige Verderben.
Elfriede Jelinek schafft mit ihrem Drama „Sonne/Luft“ mit der Besetzungsangabe „variabel“ einen wortgewaltigen, außerterrestrischen Blick auf die Erde. Es ist die Sonne, welche dem Ensemble über lange Strecken keinen Text zur Verfügung stellt. Vielmehr macht sie in einem langen Monolog klar, welche sowohl glückbringende als auch unheilvolle Rolle sie für unseren Planeten spielt. Obwohl man ihre Stimme nur vom Band hört, ist sie doch stark präsent und wird es im Laufe der Vorstellung immer mehr.
„Ich bin die Mutter, die töten muss“ oder „nach uns wird es kein Geschlecht mehr geben“ sind Sätze, die man schon kurz nach Beginn zu hören bekommt und die auf nichts Gutes verweisen. Die Erdenflüchtlinge sind unterdessen mit sich selbst beschäftigt. Unter der Regie von Emre Akal, der kunst- und geistvoll zugleich dem Text auf diese Art und Weise die höchstmögliche Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, agiert das Ensemble derweilen stumm auf der Drehbühne.
In überzeichneten Kostümen mit breiten Hüften, dicken Bäuchen oder zu blond gefärbten Haaren fliegen diese Prototypen unserer Spaßgesellschaft durch das All, als wäre das das Normalste außerhalb der Welt. Durch Fitnessprogramme und Junk-Food-Verzehr, ja sogar durch Beischlafmöglichkeiten abgelenkt, herrscht offenkundig eine stillschweigende Übereinkunft, sich keine Fragen zu stellen und so weiterzumachen wie bisher. Nur eben nicht mehr auf der Erde, sondern in einem Raumschiff, ausgestattet mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten.
An einem bestimmten Punkt der Bühnen-Drehbewegungen wird ein künstlerisch verfremdetes, gemaltes Portrait der Autorin sichtbar. Ihr Konterfei bedeckt eine komplette Wand und blickt geradeaus ins Publikum, sodass die Assoziation „Jelinek ist gleich die Sonne“ auf der Hand liegt. Der lange Monolog macht klar, dass das Verhältnis von der Erde zur Sonne nicht gleichberechtigt ist. Vielmehr bleiben die Menschen trotz der Sonnen-Allmacht von ihr völlig unberührt. Ihr Treiben steht in keinem Zusammenhang mit dem Unheil, das schon derzeit, stärker aber noch in Zukunft auf der Erde passiert und passieren wird.
Während der Text von Elfriede Jelinek mehr zelebriert als gespielt wird, wird das Publikum Zeuge zweier Geburten und zweier dramatischer Kindsweglegungen, welche kollektiv gefeiert werden. Der Mensch ist zwar nicht fähig, der Reproduktion zu widerstehen, aber das Großziehen von Kindern scheint nicht mehr vorgesehen zu sein. Immer wieder sind es verstörende Blicke in intime Geschehen in einem gekachelten Raum, in dem Männern ein Absaugeschlauch am Penis fixiert oder einer liegenden Frau an ihren Brüsten eine Abpumpstation angelegt wurde. Das Leben scheint vollkommen aus dem Lot geraten zu sein, ohne dass die Menschen sich dessen tatsächlich bewusst sind oder sich dagegen auflehnen.
Als sich der Text dem Element Luft widmet, werden sie gesprächig. Zwar ist auch jetzt nichts Persönliches von ihnen zu hören, vielmehr tragen sie die Sätze als Fragmente, hintereinander verschachtelt, im Chor vor. Die Bedrohung, die von einer kontaminierten und verschmutzten Luft ausgeht, lässt jedoch Panik aufkommen.
In dem Moment, als das Unheil abgewendet scheint, entspannt sich die Lage im Raumschiff. Ausgelassen springen die Insassen von Raum zu Raum, freuen sich, ob ihrer geschenkten, neuen Lebenszeit und negieren weiter, dass die Fahrt, auf der sie sich befinden, sie nirgends wohlbehalten hinbringen wird.
Das Handeln der Raumschiff-Passagiere wird keiner Wertung unterzogen. Lediglich die Überzogenheit der Charaktere verweist auf die ungeheure Absurdität ihres Tuns. Die roten Flammen, die am Schluss im All sichtbar werden, zeigen an, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis das Raumschiff in ihnen verbrennen wird.
Durch den Einsatz von Videosequenzen des Künstlerduos Mehmet & Kazim erhält die Ausstattung einen besonderen ästhetischen Push, gewinnt an Dreidimensionalität und lässt zum Teil sogar Kino-Feeling aufkommen. Nicht zuletzt ist es die kluge Soundmischung von Enik mit dramaturgischen Ausmaßen, welche dem Geschehen beständig einen passenden, emotionalen Unterbau verleiht. Die Mischung zwischen herkömmlichen Theatermitteln und dem Einsatz von artifiziellen Videos und Projektionen heben die Inszenierung auf ein neues Theater-Erfahrungslevel. Es macht Staunen und zugleich Lust, mehr in dieser Art zu sehen. „Sonne/Luft“ bietet dem Publikum, was das Kino oder auch die großen Bildschirme in den Wohnzimmern nicht bieten können: eine Live-Performance, in welcher die Emotionen von der Bühne direkt in den Zuschauerraum schwappen und einen Plot, der aufgrund seiner kunstvollen Sprache, seines geistvollen Inhalts und einer gelungenen Bühnenumsetzung auch den Intellekt anspricht. Mission completed.
Das Ensemble im Volleinsatz: Tim Breyvogel, Thomas Kramer, Luiza Monteiro, Anna Rausch, Sebastian Schindegger, Anke Stedingk und Mervan Ürkmez