Sind Menschen nichts anderes als Wölfe?
20. Juni 2024
Auf der Studiobühne der Oper Graz zeigte der Choreograf Yaron Shamir seine Arbeit „Urban Wolves“.
Michaela Preiner
"Urban Wolves" • Oper Graz (Foto: Werner Kmetitsch)
Foto: (Werner Kmetitsch)

Der aus Israel stammende und in Berlin lebende Choreograf entwirft ein Szenarium, in welchem die Tanzenden mehr Wölfen ähneln als Menschen. Um diesen Eindruck zu verstärken, werden anfangs auch tierische Laute in den Sound eingearbeitet, ganz so, als würden wilde Hunde an Leinen gehalten schnauben und ungeduldig Laut geben. Shamir ist auch für das Licht und das düster-stimmige Bühnenbild verantwortlich. Das siebenköpfige Ensemble und der schauspielende Sprecher – Daniel Tille – agieren in einem dunklen Setting, viel Theaternebel, aber einem abwechslungsreichen Soundlayer von Sandrow M aus Dresden.

Daniel Tille (Foto: Werner Kmetitsch)

Daniel Tille (Foto: Werner Kmetitsch)

Daniel Tille hat selbst den Text beigesteuert, der dem Geschehen eine erweiterte Erklärungsebene geben soll. Über die literarische Qualität kann man diskutieren, ist er doch einfach gestrickt und lässt an einer einzigen Stelle Humor durchblitzen. Wenn er meint, dass wir mit zu wenigen Mittelfingern geboren seien, um unseren Unmut über die Welt genügend kundzutun, darf das Publikum zumindest einmal kurz lachen.

Darüber hinaus agiert er als Aufpeitscher oder Despot und erscheint schon rein optisch in langem, schwarzem Ledermantel und seiner alle anderen überragenden Körpergröße als ‚leader of the pack‘. „Ich habe heute mein Spiegelbild verloren“, „Ich bin schwach, zeig mir den Weg, Meister“, „Wir fliegen in den Kosmos und sehen im Spiegel einen Steinzeitmenschen“ oder der Reim „Die finstre Mutter ist uns leid und hüllt uns in ihr blut´ges Kleid“ sind Sätze aus seinem Text, den die Choreografie genau genommen gar nicht benötigt. Es würde reichen, wenn Shamir Tilles Rolle choreografischer andächte, ohne dass dieser dabei tatsächlich tanzen muss.

Während die drei Frauen und vier Männer des Tanzensembles, Naomi Bethke, Diego del Rey, Fabio Agnello, Giulio Panzi, Lorenzo Galdeman, Lucie Horná und Stephanie Carpio beinahe ständig in Bewegung sind, schleicht Tille, wolfsgleich, gerne zwischen ihnen herum oder beobachtet sie von einem erhöhten Standpunkt aus. Wenn es das Setting verlangt, wird er auch zum Berserker und bewirft eine Solistin mit federleichten Bühnen-Kohlen, die den Boden bedecken. Ganz so, als würde er ihren Ausbruchsversuch in ein individuelles Dasein sofort bestrafen.

Shamir verwendet in seiner Choreografie viele Urban-dance-Elemente und lässt die Tänzerinnen und Tänzer häufig auf dem Boden agieren. Ihr Robben, Dehnen, Rollen und Strecken ist höchst ästhetisch. Ihr selten lang aufrechtes Stehen oder Tanzen verweist plakativ auf die Erzählung vom Wolf im Menschen. Temporeiche Abschnitte werden mehrfach durch statische unterbrochen, in welchen das Ensemble, völlig ausgepowert, auch wieder Luft holen kann. Angst und Panik, aber auch Angriff oder sich Wehren, am häufigsten jedoch Unterwerfungsgesten, sind aus dem Bewegungsrepertoire deutlich herauszulesen. Ein vielfaches Straucheln, Fallen und Taumeln der Tanzenden, ganz im Gegensatz zum stets kraftvoll auftretenden Tille, machen klar, wer hier das Leittier ist.

"Urban Wolves" • Oper Graz (Foto: Werner Kmetitsch)

„Urban Wolves“ • Oper Graz (Foto: Werner Kmetitsch)

In der Musik von Sadrow M wechseln Rave-Beats mit elektronischen Wellness-Chorälen, aber auch einer langen, leichtfüßigen Jazz-Impro am Klavier. Dass am Schluss eine dunkle Moll-Melodie im allerletzten Akkord in Dur aufblitzt, ist der einzige hoffnungsvolle Moment, aus der tierischen Bestimmtheit doch noch im menschlichen Dasein anzukommen. Die Verzahnung von Schauspiel und Tanz in „Urban Wolves“ darf man als Experiment mit Ausbaufähigkeit sehen.

Der Hitze im Untergeschoß, in welchem die Studiobühne der Oper Graz untergebracht ist, wurde man leider noch immer nicht Herr. Kreislaufschwache Menschen sollten die Location nur dann besuchen, wenn nicht tropische Temperaturen herrschen, wie bei der Premiere. Das Klima in dem Raum ist nicht nur eine Zumutung für das Publikum, sondern vor allem auch für jene, die spielen, performen, oder tanzen. Umso größer ist die Leistung des Ensembles an diesem Abend zu bewerten.