Die Bühne dreht sich im Dunkeln. Gibt kurzfristig den Blick auf einen Raum frei, in dem sich Menschen um sieben an der Wand stehende Pianinos gruppiert haben. Ein dumpfer Sound, zuerst nur ein Rhythmus, wie von einer großen Pauke in der Ferne geschlagen, unterstreicht das schwermütige Bild. In der Inszenierung von Romeo und Julia, die derzeit am Volkstheater in Wien zu sehen ist, wird schon von Beginn an klar, dass das Ende des Stückes kein heiteres sein wird.
Es ist ein Triumvirat, das dieser Aufführung seinen markanten Stempel aufdrückt. Philipp Preuss, Regisseur, Ramallah Aubrecht, Bühnenbildnerin und Kornelius Heidebrecht, Musik, arbeiten schon lange zusammen und tourten mit „ihren“ Stücken bereits durch Deutschland. Das Käthchen von Heilbronn in Leipzig, Alice im Wunderland in Frankfurt, Torquato Tasso am Residenztheater in München, um nur einige zu nennen. Das Gesamtpaket, das sie in Wien abliefern, ist ein weiterer Beweis, dass es von Vorteil ist, wenn am Theater Menschen zusammenarbeiten, die sich gut kennen und die wissen, welche Idee von Theater sie in sich tragen.
Bald kommt Romeo an den vorderen Bühnenrand. Kriecht dafür unter dem schwarzen Gaze-Vorhang durch, der für spätere Projektionen benötigt wird. Er bleibt nicht alleine, denn ihm folgen noch zwei, die seinen Namen tragen. So wie es in dieser Interpretation auch drei Julias gibt. Thomas Frank, Kaspar Locher und Nils Rovira-Munoz sowie Katharina Klar, Nadine Quittner und Stefanie Reinsperger agieren als Drillinge, als Alter Egos oder auch schlicht als Personen, die alle das selbe Schicksal erleiden. Je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man den Regieeinfall von Preuss sehen will. Der mehrfach Ausgezeichnete, der auch an der Schaubühne in Berlin inszenierte und außerdem als Bildender Künstler und Autor bereits in Erscheinung getreten ist, lässt die Geschichte um die zwei unglücklich Liebenden im Kern bestehen. Er beleuchtet, gerade durch die Verdreifachung der Charaktere und damit zusammenhängende, hintereinander dreifach gespielte Szenen, besonders intensiv das Gefühlsleben von Romeo und Julia. Ihre überbordende Freude am Verliebtsein, am Sich-Gefunden-Haben. Aber auch ihre kompromisslose Entscheidung zum Selbstmord.
Um jedoch auf eine erträgliche Aufführungsdauer zu kommen, mussten eine ganze Reihe von Figuren und Szenen gestrichen werden, was zugleich die Kenntnis des Stückes voraussetzt. Damit hat Preuss nicht ganz unrecht, denn wer bitte, kennt das mittlerweile 420 Jahre alte Drama nicht? Wer weiß nicht, dass Romeo und Julia, durch die gesellschaftlichen Umstände eigentlich nicht zueinander finden dürfen und ihre Liebesauflehnung gegen den Krieg der beiden Familien zugleich ihren Tod bedeutet? Gerade dieser Umstand muss heutigen Regieführenden großes Kopfzerbrechen bereiten. Denn entweder sie verharren in einer romantisierend-historisierenden Fassung, oder sie stellen sich die Frage nach jenen Konstanten, die über die Jahrhunderte hinweg gleich aktuell geblieben sind.
Bei Preuss ist es einerseits das große Liebesgefühl, das Romeo und Julia aus ihrer vertrauten Lebenswelt komplett ausbrechen lässt. Dann ist es auch die Gegenüberstellung dieser emotionalen Hochschaubahn zu jener Liebesidee des Grafen Paris (Christoph Rothenbuchner), der mit seiner Beharrlichkeit meint, Julias Hand erringen zu können. Runde um Runde sitzt er über eine lange Zeit auf der sich drehenden Bühne und wartet mit einem Blumenstrauß nach dem anderen auf eine Gelegenheit, sie Julia zu überreichen. Er tut dies mit einer Engelsgeduld und wohl jeder Menge Zeit, denn nach der Pause erscheint er mit einem vollen Rauschebart und intoniert dabei in einer sehr berührenden Szene Nick Caves „Into my arms“. Es ist aber auch der immer wieder kehrende Konflikt zwischen Eltern und Kindern, das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen, generationsbedingten Sichtweisen aufs Leben. Und nicht zuletzt sind es die Umstände einer ganzen Gesellschaft, die persönliches Glück zulassen oder aber auch zerstören können.
Preuss verwendet die Übersetzung von Frank Günther, der sich die unterschiedlichen Charaktere sprachlich ganz genau angesehen hat. Seine Ausdrucksweise umfasst eine riesige Spannweite. Von elaboriert bis ordinär ist darin alles enthalten. Und so parlieren Jung und Alt zeitweilig in Reimform, wenn`s ans Beschimpfen geht, wird aber jede Sprachkunst fallen gelassen. Wunderbar authentisch, angsteinflößend und humorig zugleich agiert hier besonders Stefan Suske als Capulet, der seiner Tochter die Heirat mit Paris aufzwingen will. Sein Gegenspieler, Lorenzo (Rainer Galke, der Hilfe und Vernunft so innig wie nur irgendwie möglich zum Ausdruck bringt) verwendet nur die feine rhetorische Klinge, wenngleich auch genauso erfolglos.
Die Bühne bleibt auf lange Strecken, kongruent zur Musik, sehr dunkel. Die Kostüme, ebenfalls von Ramallah Aubrecht, verströmen eine Hauch von historischem Duft, sind zugleich aber höchst zeitgeistig. Der Projektionsvorhang wird dazu genutzt, um nach Romeos erstem Auftritt abwechselnd das Gesicht der Mutter und der Amme von Julia in Großformat zu zeigen. Geschminkte Augenlieder, die, wenn sie geschlossen sind, die Illusion erzeugen, als wären die Augen offen, machen das doppelte Frauenspiel in einer Person möglich. Steffi Krautz brilliert in beiden Rollen, sowohl als kalte Lady Capulet, die sich dem Diktat ihres Mannes unterwirft und dafür sogar ihre Tochter opfert. Sie überzeugt jedoch vor allem als liebende Amme, der Julia so an ihr Herz gewachsen ist, dass sie ihr keinen Wunsch abschlagen kann. Dabei spielt sie lupenrein auf der komödiantischen Klaviatur. Auch die schönste und innigste Szene des Abends verdankt der Projektionstechnik ihre grandiose Stimmung. Die Abschied der Liebenden, in welcher Julia die Worte über die Nachtigall und die Lerche spricht, weckt starke Emotionen. Kopf an Kopf im Kreis am Boden liegend, den Blick in den Himmel gerichtet, sprechen die Jungen, die Sätze stets abwechselnd, ihren Liebesdialog. Die Tonverstärkung, die mit der Kameraaufnahme einhergeht, die sich ganz an die Köpfe der Schauspielerinnen und Schauspieler heran zoomt, macht es möglich, dass die Worte im zartesten Liebesgeflüster gehaucht werden können.
Die Idee, auf weite Strecken Musik einzusetzen, die live gespielt wird, erweist sich als großartig. Ähnlich wie im Kino, wird das Geschehen dadurch nicht nur getragen, sondern erhält in diesem Fall eine durchgehende Grundstimmung. Heidebrecht schuf eine Komposition für sieben Pianistinnen, respektive Pianisten. Selbst in der Szene des Balls im Hause der Capulets, in der die Jugend ausgelassen herumhüpft, ist es die dunkle Klangfärbung, die beim Publikum keine Glücksgefühle aufkommen lässt. Die Musizierenden, die bei ihrem Einsatz stets sichtbar sind, agieren an gewissen Stellen als Gaffer, die sich nicht scheuen, bitterste und intimste Familienangelegenheiten zu beobachten. Dann wiederum drehen sie dem Geschehen den Rücken zu. Die präparierten Klaviere machen es möglich, dass nicht nur Klänge, sondern auch ein rhythmischer Soundlayer das Spiel um Leben und Sterben von insgesamt vier jungen Menschen in permanenter, düsterer Grundstimmung begleiten. Auch dieser Umstand wird bei Preuss besonders herausgehoben. Es sind nicht nur Romeo und Julia, die jung aus dem Leben scheiden, sondern auch Tybalt (Sebastian Klein) und Paris. Im letzten Bild bietet sich dann konsequenterweise auch ein wahres Schlachtfeld, auf dem sieben junge Menschen leblos in ihren roten Blutlachen liegen.
Klassik-Inszenierungen müssen sich heute nicht nur daran messen lassen, ob die Botschaft des Stückes transportiert werden konnte. Es sind auch die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Das Bild der sich immerfort drehenden Bühne, in dunkles Licht und in melancholische Musik getaucht, als Metapher für den ewigen Kreislauf um Leben und Tod, wird in der Erinnerung an diese Inszenierung abrufbar bleiben. Genauso wie die permanente, düstere Grundstimmung, die im Gegensatz zum prallen jugendlichen Leben steht, das von den Schauspielerinnen und Schauspielern intensivst vorgeführt wurde. Mission completed. Voll und ganz.