Im Rahmen des Marionettenfestivals „Giboulées de la marionnette“ machten zwei Inszenierungen in Straßburg halt, die verdeutlichten, dass Marionetten nicht nur zum Liebhaben und Lachen eingesetzt werden können.
„Die Samenträger“ von Stephan Mottram aus Großbritannien und „Der Menschenfresser und die Puppe“ aus dem Clastic Theater brachten Themen auf die Bühne, die schwer verdauliche Kost darstellten und auch erst für Menschen ab 14 Jahren empfohlen waren. Und das zurecht.
Stephan Mottram präsentierte mit seinen „Samenträgern“ eine schwarze Vision vom Menschen, die man ruhig als Endzeitphantasmagorie bezeichnen kann. In ihr werden die humanoiden Erdbewohner wie Insekten in großen Schmetterlingsnetzen gefangen, um sofort getötet zu werden. Die sich aufgetürmten Leichenberge werden anschließend in eine alchimistische Kammer gebracht, in der ein „Übermensch“, der Faust´sche Charakterzüge trägt, sich daran macht, die Gliedmaßen und die Köpfe der Kadaver abzureißen, um schließlich die im Rumpf verborgenen Samen in einen Behälter zu schütten. Zu leichte Samenkörner, die als nicht brauchbar klassifiziert werden, werden sofort weggeworfen. In einem weiteren Bild, in welchem die Gliedermarionetten von Mottram in allerlei kleine Maschinen eingespannt sind, die sie offenkundig mit ihrer Muskelkraft am Laufen halten, werden die Samen wiederum in neue Rümpfe eingepflanzt. Auch hier wieder wird geköpft und getötet wie am Fließband und wie schon im ersten Aufzug – ohne jegliche emotionale Beteiligung.
Mottrams Puppen faszinieren gleichermaßen, wie sie abstoßen. Der Mensch als lieblos reproduzierbares, ja züchtbares Wesen, das sich nur kurz in seinem Todeskampf wehrt, verweist auf Ideen, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in abgewandelter Form auftauchen. Es kann einerseits als Metapher auf unseren Umgang mit der Tierwelt gelesen werden, aber, was noch schwerer wiegt – es zeigt in überzeichneter Art und Weise auch auf, welcher Wert Menschen in einer globalisierten Welt zugeschrieben wird, deren Streben nach Gewinnoptimierung keinerlei Moral und Ethik mehr berücksichtigt. Stephan Mottram schafft auf seiner kleinen Bühne mit vielen Requisiten ein Universum, in dem Wärme und Mitgefühl keinerlei Platz haben. Die überaus gelungene Musik, und akustische Hintergrundinformation, die Glyn Perrin dazu schuf, und die in dem gesamten Stück über grauschwarze Gedankenschleier erzeugt, verstärkt die pessimistische Grundhaltung noch zusätzlich. Stephen Mottrams visualisierter und hörbar gemachter Albtraum fasziniert vor allem durch seine Direktheit, die Grausames so offen zeigt, dass jegliche Sprache versagt. Das ist wohl auch der Grund, warum das Stück ohne ein Wort auskommt.
Die „Zugabe“ des Marionettenspielers, in der er zeigte, dass Marionetten auch ganz poesievoll agieren können, half, ein Stück des Grauens im dunklen Saal zurückzulassen.
„Der Menschenfresser und die Puppe“ nach einem Text von Daniel Lemahieu und unter der Regie von Francois Lazaro inszeniert, beschäftigt sich mit dem Thema der Gewalt gegen Frauen sowie dem Kindesmissbrauch.
Die zarte Aurelia Ivan, die der Puppe ihre Gesten und ihre Stimme einhaucht und der auf alt geschminkte Francois Lazaro, der den menschenfressenden Theaterdirektor spielt, der sein Leben nicht mehr erträgt und seinen Frust an den Puppen auslässt, vermitteln eineinhalb Stunden lang, dass Gewalt ein Phänomen ist, das sich fortpflanzt und unausrottbar erscheint. Die erst kürzlich entdeckten Dramen in Belgien, Deutschland oder Österreich, in denen Kinder und Frauen in Verliese gesperrt und jahrelang missbraucht oder auch getötet wurden, zeigen, wie real das Thema tatsächlich ist.
Lazaro versucht in seiner Interpretation, dem Täter ein menschliches Antlitz zu geben, was ihm zwar kurzzeitig gelingt, jedoch nie die Schuld von seinen Schultern nimmt. Auch die wechselseitige Abhängigkeit von Opfer und Täter, die soweit geht, dass das Opfer sich ein Kind von seinem Misshandler wünscht, ist ein allseits bekanntes Phänomen aus der Psychologie. Dem Publikum läuft kalter Schauer über den Rücken, wenn der „Menschenfresser“ seinen Puppen die Köpfe abreißt, die Arme und Beine in einen Schacht versenkt und auf dem Rest wie wild herumtrampelt. Aber offenbar bedarf es so drastischer Bilder, um dieses Thema nicht weichgespült als künstlerisches Ereignis, das einen Abend lang unterhält, zu behandeln. Vielmehr bleiben die grausamen Bilder, aber auch Dialoge gut im Gedächtnis – wie die lange Liste jener tragischen Frauen, die auf der Bühne und im literarischen Mythos durch Männergewalt ihren Tod fanden.
Die musikalische Begleitung von Jacques di Donato und Isabelle Duthoit – die so subtil jammert, fleht und weint, dass man vergisst, dass es sich dabei um eine Marionette handelt, der sie ihre Stimme leiht, trägt maßgeblich dazu bei, dass die Gefühle der Zuseherinnen und Zuseher niemals in einen falschen Pathos abgleiten können. Die Betroffenheit angesichts der unausrottbaren Gewalt vermischt sich mit der Erkenntnis, dass sowohl Opfer als auch Täter in einem System gefangen sind, das unsere Gesellschaft produziert – die sich aber um die Not aller Beteiligten nicht kümmert.
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