Eine doppelt tragische Liebesgeschichte
19. Januar 2024
Der Literaturnobelpreisträger Jon Fosse und der Komponist Peter Eötvös ermöglichten mithilfe des Ensembles der Grazer Oper mit der Produktion „Schlaflos“ einen beeindruckenden Opernabend.
Michaela Preiner
Foto: (Andreas J. Etter)

Zeitgenössische Opern sind, was den Publikumsstrom betrifft, für ein Haus immer ein Wagnis. Umso höher ist es zu bewerten, dass der seit dieser Saison neue Intendant der Grazer Oper – Ulrich Lenz – eine österreichische Erstaufführung des Komponisten Peter Eötvös ansetzte: „Schlaflos“ nach einer Romantrilogie des Nobelpreisträgers Jon Fosse. Uraufgeführt 2021 in Berlin, wurde für Graz eine deutsche Textfassung in der Übersetzung von Errico Fresis in Auftrag gegeben, was sich als goldrichtig erwies.

"Schlaflos" von Peter Eötvös an der Grazer Oper (Foto: Andreas J. Etter

„Schlaflos“ von Peter Eötvös an der Grazer Oper (Foto: Andreas J. Etter

Erzählt wird die Geschichte eines jungen Liebespaares, das in einem kleinen Nest in Norwegen wohnt. Das Mädchen ist von der Mutter ungeliebt, der junge Mann verwaist und nur im Besitz einer Geige. Verstoßen und nirgends angekommen, abgewiesen und gedemütigt, entwickelt sich eine Dynamik aus Gewalt und Totschlag, die den beiden auf ihrer Reise in ein vermeintlich besseres Leben begegnet. Dazu kommt eine zusätzliche psychologische Komponente, die Fosse in Form eines Nebenbuhlers ausgearbeitet hat. Dieser erweist sich letztlich jedoch auch nur als halbherziger Sieger in einem verdeckten Spiel um die Zuneigung der jungen Frau.

Die Brutalität der Handlung wird vom Regisseur Philipp M. Krenn noch verdoppelt. Er versetzt das Paar in die Zeit zwischen den 70er- und 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts und lässt sie zu Beginn an einer kalten, gekachelten Mauer im Umfeld einer Markthalle, wie man sie auch von Bahnhöfen her kennt, kauern. Heike Vollmer (Bühne) und Regine Standfuss (Kostüme) schufen dafür ein authentisches, großartig wandelbares Umfeld, das die Kälte der Charaktere glaubwürdig spiegelt. Schnell wird klar, dass Drogen im Spiel sein müssen, die Existenz der beiden an einem seidenen Faden hängt. Das Schlussbild – es ist dasselbe wie jenes im ersten Aufzug, vermittelt den Eindruck, dass all das, was geschehen ist, vielleicht nur ein Traum gewesen sein könnte. Und tatsächlich lässt Krenn auch innerhalb der Geschichte zwei Deutungsvarianten zu. Zum einen erzählt er bildlich, dass die junge, drogenabhängige Frau eine Totgeburt erleidet und sich anschließend einen goldenen Schuss setzt. Zum anderen folgt er dem Libretto und lässt sie mit ihrem Sohn weiterleben. Wie diese Doppelerzählung aufgebaut ist, ist genauso tricky wie die Erzählstruktur des Autors selbst, der mit überraschenden Wendungen in der Handlung aufwartet. Krenn erreicht dadurch zusätzlich, dass man, wenn man die Trilogie nicht gelesen hat, neugierig darauf wird.

So trostlos wie die Erzählung auch erscheinen mag, so hoffnungsvoll ist sie zugleich auch. Der Komponist Peter Eötvös hat daran einen großen Anteil. Seine Musik hebt in den Traumszenen die Stimmung in schwebende Sphären, welche die Last des Alltags vollkommen vergessen lassen. Grandios werden diese vom doppelten Vokalterzett links und rechts der Bühne in den angrenzenden Logen, gesungen. Dieselbe wohltuende, musikalische Färbung markiert den Schluss, in welchem die Liebe, die über den Tod hinaus spürbar bleibt, zu strahlen beginnt. Vergessen ist in diesen Szenen das Poltern der wilden Biergesellen in einer mobilen, kleinen Trinkhalle. Vergessen auch die kunstvollen Schrei-Koloraturen jener jungen Frau, die verblendet und eifersüchtig das schwangere Mädchen verstößt und schließlich gegen ihren Freund hetzt, sodass er von der Gesellschaft in Lynchjustiz ermordet wird.

Tetiana Miyus und Mario Lerchenberger machen mit ihren herausragenden Stimmen als Alida und Asle den Abend zu einem ganz besonderen Ereignis. Zu Recht wurden die beiden, wie auch Daeho Kim in der Rolle des Nebenbuhlers und Tetiana Zhuravel als junges, eifersüchtiges Mädchen mit Bravo-Rufen und heftigem Applaus bedacht.

Vassilis Christopoulos am Dirigentenpult erwies sich als genau hinsehender und analysierender musikalischer Leiter, dem das Orchester mit ebensolcher Präzision folgte. Eötvös lässt in einzelnen Passagen seine ungarische, musikalische Prägung durchblitzen, wenn Geigen wehmütig oder ausgelassen darüber berichten, wie schön das Leben mit Musik doch sein kann. Beeindruckend sind auch jene Passagen, in welchen sich das Unheil über den jungen Mann zusammenbraut, was durch den Einsatz von wildem Blech verdeutlicht wird. Immer wieder hat auch die Marimba beinahe solistische Einsätze und trägt, wie auch die Klarinetten zu ganz speziellen, charakterisierenden Motiven bei.

Mit „Schlaflos“ war in der Grazer Oper nach „Morgen und Abend“,  komponiert von Georg Friedrich Haas, bereits eine zweite literarische Vorlage von Jon Fosse zu sehen. Auch das darf als höchst kluge Entscheidung gewertet werden. Ermöglicht sie doch dem Publikum, sowohl aktuelle kompositorische als auch literarische Tendenzen auf höchstem Niveau zu verfolgen.

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