Wenn nichts so ist, wie es scheint

Wenn nichts so ist, wie es scheint

Michaela Preiner

Foto: ( Jan Friese )

13.

Juni 2023

Das Schauspielhaus Salzburg ist nicht nur ein Haus mit einem tollen Ensemble und einem interessanten Spielplan. Es wagt auch Experimente. Das neueste ist eine Auftragsarbeit an eine rumänische Autorin. Elise Wilk schrieb das Stück „Union Place“ – Eine kurze Trilogie – so der Untertitel.

Der Autorin gelang nicht nur ein spannendes Stück, sondern das Kunstwerk, anhand von Einzelschicksalen einen gänzlich anderen Blick auf eine europäische Landschaft zu werfen, als man es gewohnt ist. Mit dem Escher Theater in Luxemburg und dem Nationaltheater Timișoara fanden sich zwei Kooperationspartner, welche die mehrsprachige Aufführung ab August und danach im Herbst ebenfalls zeigen werden.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler stammen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg und Rumänien und sprechen auf der Bühne Deutsch, Englisch und Rumänisch. Damit alles von allen verstanden werden kann, laufen auf der dunklen Bühnenrückwand große, gut lesbare Übertitel mit. Zugleich werden die Charaktere und die Zeit, in welcher die Szenen spielen, mit Kreide an der schwarzen Wand festgehalten. Isabel Graf schuf eine lang gezogene, weiß gedeckte Tafel als Bühnenbild. Im Laufe des Geschehens erwartet das Publikum so manche Überraschung mit diesem Objekt, wobei die Regie dabei mit großer Lust tief in die Theaterkiste greift.

Drei unterschiedliche Erzählstränge mit verschiedenen Darstellerinnen und Darstellern scheinen anfangs nichts miteinander zu tun zu haben. Je länger die Vorstellung jedoch dauert, umso öfter wird man von der Erkenntnis getroffen, dass man im Publikum mehr weiß, als die Figuren auf der Bühne, dass man Zusammenhänge erkennt, welche den Agierenden nicht bekannt sind. Die Handlung erstreckt sich über drei Generationen, mit sieben Personen. Die vierte Generation, die Eltern der Rumänin Mariana (Christa König) sind nur durch kurze Beschreibungen mit von der Partie. Aber auch die Ehefrau von Rudolf (Wolfgang Kandler), der Ehemann von Sophie (Christiane Warnecke), die Mutter von Darius (Philippe Thelen), sowie der geschiedene Mann von Daniela (Sophia Fischbacher) kommen nur indirekt ins Spiel. Wenngleich sie alle wichtige Positionen einnehmen und sich die eine oder andere Handlungswendung nur durch diese abwesenden Personen erklären lässt.

Die Familiengeschichten aus Rumänien, Deutschland und Luxemburg weisen ziemliche Bruchstellen auf. Das Zusammenleben über die Grenzen hinweg gestaltet sich nicht so friktionsfrei, wie man erhoffen könnte. Schuld daran sind aber keine Sprachbarrieren. Das, was letztlich befremdet, ist der Unterschied der gesellschaftlichen Normen, die man von Kind an in dem Land, in dem man aufwächst, mitbekommt. Das Familienbild in Rumänien ist nach wie vor ein sehr traditionell geprägtes. Eine Abweichung davon, etwa als Frau unverheiratet zu bleiben, wird von der Gesellschaft auch heute noch nicht goutiert. In Deutschland haben sich die Frauen eine Selbstbestimmung erkämpft, die auch das Recht beinhaltet, mit dem eigenen Körper und dem Kinderwunsch sehr frei umzugehen. Was passiert aber, wenn sich Kinder gar nicht so entwickeln, wie man sich das vorgestellt hat? Wenn Ehen an patriarchalen Mustern, die ungefragt gelebt werden, scheitern? Dies sind nur einige Fragen, welche die Autorin in ihrem Stück anschneidet. Das Spannende daran ist aber, dass all das nicht in einer trockenen, theoretischen Abhandlung vorexerziert wird. Vielmehr darf man an spannenden Lebensbildern teilhaben. Kunstvoll verwebt Elise Wilk diese miteinander, sodass einem am Ende der Atem stocken kann.

Da verliert Rudolf seinen studierenden Sohn aufgrund eines Unfalles und macht sich auf die Suche nach seinem unehelichen Kind, das seine Jugendliebe geboren haben soll. Da bemüht Sophie aus Hamburg eine ukrainische Leihmutter, da sie vermeintlich selbst keine Kinder bekommen kann. Da trifft Alex (Andrei Chifu) aus Rumänien im Haus von Walter (Jens Ole Schmieder) in Luxemburg zur Weihnachtsfeier ein und soll laut seiner Mutter Daniela dort aber für längere Zeit bleiben. Mit kurzen, aber prägnanten Dialogen erhält man Einblick in die Sorgen und Nöte der Figuren und stellt fest, dass ein beschauliches Familienleben offenbar etwas ist, das sich zwar alle wünschen, das aber dennoch eine Utopie darstellt.

Regie führte Alexandru Weinberger-Bara, der in Rumänien geboren ist, aber nach seiner Matura nach Österreich zog, um am Max Reinhardt Seminar bei Anna Maria Krassnigg und Martin Kušej Regie zu studieren. Beeindruckend, wie er die Beweggründe aller verständlich werden lässt und dabei auch das richtige Zeitmaß findet. Zwar lösen sich die Szenen in raschem Wechsel ab, dennoch verliert man nie den Überblick und fühlt sich ob der anfänglich nicht zusammenhängenden Momentaufnahmen auch nicht überfordert. Großartig, wie er durch ganz feine Hinweise die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalitäten sichtbar macht. Rudolf leidet noch immer darunter, dass er, obwohl er in seiner Jugend aus Rumänien geflohen ist und ein einwandfreies Deutsch spricht, nicht als Deutscher erkannt wird. Dabei übersieht er völlig, dass ihn seine Gestik immer und immer wieder verrät.

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Union Place – Schauspielhaus Salzburg (Foto: Jan Friese)

Daniela aus Rumänien wiederum hält an ihrem christlichen Glauben fest, ohne dass ihr die Widersprüche auffallen, in welche sie sich immer wieder verstrickt. Der Deutsche Walter war überzeugt, sich mit Geld eine junge Osteuropäerin als gefügige Ehefrau erkaufen zu können, findet jedoch nach einem bösen Erwachen nur mehr Zuflucht im Alkohol. Darius flieht vor seinen Eltern in eine WG und ist sich nicht bewusst, dass er sich gegen die Strenge seines Vaters mit der Verweigerung zu studieren wehrt. Dass dieser noch das Ceaușescu-Regime als Jugendlicher erlebt hat und selbst von einem autoritären Erziehungsstil geprägt ist, hinterfragt sein Sohn nicht.

Die charakterliche Tiefe, welche jede Figur besitzt, ist erstaunlich, manches Mal widersprüchlich, immer jedoch zutiefst menschlich. Und genau das ist es, was über allem Trennenden steht. Das Menschsein an sich vereint uns über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg und lässt uns erkennen, dass wir alle zuallererst glücklich leben wollen und dieses Glück auch an unsere Kinder weitergeben möchten.

Es gäbe viel zu erzählen über „Union Place“, man könnte Seiten füllen, um die sieben Charaktere auszuleuchten. Thomas Mann hätte für die Geschichte wahrscheinlich mehr als tausend Seiten gebraucht. Daran lässt sich die dramatische Begabung von Elise Wilk erkennen, die auch das Glück hatte, auf einen Regisseur zu treffen, der diesen Text treffsicher und punktgenau mit einem fulminanten Ensemble auf die Bühne brachte. Die Vielschichtigkeit des Textes, aber auch die Inszenierung an sich schaffen es, dass man versucht ist, sich ein zweites Mal das Stück ansehen zu wollen.

 

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