Leben und tanzen bis zur Verausgabung

Leben und tanzen bis zur Verausgabung

Michaela Preiner

Foto: (Andres Etter )

10.

November 2024

Das Opernhaus in Graz kann schon seit geraumer Zeit mit einem quantitativ und qualitativ starken Tanzensemble aufwarten. In dieser Saison hat es in „Sacre“ viel zu tun. Der Deutsche Louis Stiens, sowie der Kubaner George Cépedes wurden engagiert, um die Choreografien dieses Tanzabends zu gestalten.

Das Ballett hat im letzten Jahrhundert eine ästhetische Wandlung erfahren, wie alle anderen Künste auch. Die Adaption an den Zeitgeist umfasst aber nicht nur die Tanzstile an sich, sondern auch den Inhalt der Inszenierungen.
In „Fieber“ sowie „Sacre“, die an einem Abend an der Oper Graz getanzt werden, führen Stiens und Cépedes dem Publikum den Zustand unseres Planeten, aber auch unserer Gesellschaft komprimiert vor Augen.

„Fieber“

Louis Stiens beleuchtet in seiner Arbeit „Fieber“ den momentanen und vielleicht auch zukünftigen Erdenzustand. Dieser wird gleichgesetzt mit der Verletzlichkeit des Menschen, drastisch dargestellt schon in der ersten Szene, nachdem ein überraschendes Black einsetzt. Nach wenigen Augenblicken betritt ein Tänzer, der eines seiner Beine nicht mehr richtig ausstrecken kann, die Bühne. Eine anschaulichere Metapher gibt es wohl nicht, um klarzumachen, dass die Menschen und die Erde, auf der wir leben, gleich verwundbar geworden sind. Die Musik von „Fieber“ stammt sowohl von Claude Debussy als auch Maurice Ravel, zwei Komponisten, welche die Moderne in der Musik mit eingeläutet haben. Sie standen an der Schwelle zu jener Zeit, in welcher das Ausmaß der Umweltschädigung seinen dramatischen Anfang nahm.

Der neue Chefdirigent der Grazer Oper, Vassilis Christoppoulos leitet das Orchester trotz seines hohen Schlagwerkeinsatzes auf das Wohltuendste ohne Pathos, höchst nuanciert, was den vielfältigen Charaktermomenten der Choreografie sehr zugutekommt. Diese subtile Herangehensweise, die Debussys und Ravels Klangfarben und Nuancen herausarbeitet, steht im schönen Gegensatz zum Sounddesign von Anni Nöps. Ihre Klangeinsprengsel verheißen nichts Gutes. Wenn es grollt und dröhnt, weiß man, dass kein normales Gewitter im Anzug ist. Der Sound nimmt zum Teil bedrohliche Ausmaße an, die weit über ein normales Naturereignis hinausreichen und an Weltuntergangsszenarien denken lassen.

Bettina Katja Lange schuf ein mobiles Bühnenbild, das nur aus einer einzigen, großen Felsformation besteht. Diese kann von den Tanzenden gedreht und verschoben werden. Auf sie können die Menschen klettern, von ihr abrutschen, aber auch Halt und Schutz suchen. Die Kostüme changieren zwischen hautfarbenen Bodysuits und einer modernen Dirndl-Adaption. Mit letzterer ausstaffiert wird ein naher Bezug zur Alpenlandschaft hergestellt, an der sich das Ensemble im wahrsten Sinne des Wortes abarbeitet. Der Eindruck der Naturbedrohung und einer verklärten Naturanschauung liegen nah beieinander. Schöne Body-Contact-Passagen, die nie gekünstelt wirken, bieten hochästhetisches Augenfutter, an dem man sich kaum satt sehen kann. Viele Körperhaltungen erinnern an die Tanzgiganten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Vaslav Nijinsky, auf den auch im Programmheft Bezug genommen wird. Sätze aus seinen Tagebüchern, die auf eine Apokalypse hinweisen, sind gegen Ende tatsächlich auch zu hören. Jener Tänzer, der das Stück mit seinem abgewinkelten Bein einleitet, beschließt es auch wieder. Aber nun schiebt er auch den Fels auf die Seite, um schließlich im finalen Black mit diesem zu verschwinden. Eine sprachlich formulierte Interpretation erübrigt sich ob der Wucht der visuellen Aussage wohl.

„Sacre“

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Sacre • Oper Graz (Foto: Anreas Etter)

Der zweite Teil des Abends trägt den Titel „Sacre“, wobei jedoch nicht das „Sacre du printemps“ – das Frühlingsopfer gemeint ist, welches auf den Bühnen rund um die Welt getanzt wird. Igor Strawinskys Musik, geschrieben für die Ballets Russes von Sergei Diagilew, bietet George Cépedes den Layer für die choreografische Umsetzung seiner Gesellschaftsbetrachtung. Und er sieht genau hin.

Zu Beginn lässt er das Ensemble nacheinander vortreten und Standchoreografien absolvieren. Dabei scheinen sich die Arme zu verselbstständigen und agieren, als ob sie fremdgesteuert würden. Trotz ähnlicher Bewegungsabläufe bleiben individuelle Restemomente erhalten, was sich auch durch die unterschiedlichen Körpergrößen der Tanzenden ergibt. Bald lösen sich Zweier- und Dreiergruppen aus der Masse und zeigen, dass ein harmonisches Miteinander offenbar nicht zustande kommen kann. Da wird gezerrt und gerangelt, gepufft und bedenkenlos so manches Foul begangen. Jeder gegen jeden und jede gegen jede ist angesagt. Der raffinierte Lichteinsatz, der die Szenen in dunkles Rot hüllt, unterstreicht die angesagte Brutalität, die sich auch nach einem gemeinsamen Kreislauf, der schier bis zur Verausgabung absolviert wird, weiter fortgesetzt wird. Die logische Konsequenz dieses brutalen Gegeneinanders folgt in einem Zusammenbruch. Nacheinander fallen die Tanzenden auf den Boden, um in einer langen Pause völlig verausgabt liegenzubleiben.

Das warme Licht, das die darauffolgende Sequenz begleitet, stimmt von Beginn an versöhnlich. Und auch die Aussage der Tanzbewegungen künden von einem wohltuenden Zusammenleben und gegenseitiger Rücksichtnahme. Abwechslungsreiche Hebefiguren, die an klassisches Ballett erinnern, aber dennoch einen zeitgemäßen Impetus aufweisen, betonen gerne die Körpermitte. Schub- und Zug erfolgen sanft und fließend und bieten viel Gelegenheit, sich an dieser kreativen Ästhetik zu erfreuen. Was zu schön klingt, um wahr zu sein, hält auch nicht lange.

Ein abermaliger Lichtwechsel, welcher das Blutrot der Kampfszenen sofort wieder spüren lässt, leitet nun einen Part ein, in dem es nicht mehr um Einzelkämpfe geht. Nun sind es alle, nun ist es das gesamte Ensemble, das fremdbestimmt tanzen muss. Dazu passend schraubt sich die Musik ins forte Fortissimo und unterstützt mit peitschendem Elan eine Rasanz, die das menschlich erträgliche Maß weit hinter sich gelassen hat. Geht es in Diagilews Sacre um ein einziges Menschenopfer macht Cépedes klar: Die Opferrolle, die einst einem einzelnen Menschen durch die Gesellschaft aufoktroyiert wurde, ist heute eine allgemeine geworden. Der Takt der Industrialisierung, das Schneller Höher und Weiter des Kapitalismus schont niemanden und scheint alle zu willfährigen Marionetten zu machen.

Die wilde Dynamik der Musik, aufgenommen in der Choreografie, überträgt sich auf das Publikum. „Obwohl ich nur zugeschaut habe, bin ich ganz außer Atem – was für eine Leistung!“, war von einer Dame zu hören, die ihre Begeisterung mit ihrer Begleitung nach dem frenetischen Applaus teilen wollte. Eine Begeisterung, der man uneingeschränkt zustimmen kann. Auch wenn beide Stücke kein Happy End anbieten.