Githa Sowerby (1876-1970) wurde in eine Glasmacher-Industriellenfamilie aus Gateshead im Norden von England geboren. Sie schrieb einige Theaterstücke und lebte nach ihrer Übersiedelung zu ihrer Schwester nach London von der Veröffentlichung von Kinderbüchern. 1912 erlebte ihr Stück ‚Rutherford & Son‘ seine Uraufführung unter dem Künstlerpseudonym K.G. Sowerby. Das Stück entwickelte sich zu einer Erfolgsproduktion und wurde rasch in mehrere Sprachen übersetzt. Da bis nach der Premiere niemand wusste, wer hinter der Abbreviatur des Vornamens verborgen war, war die Überraschung groß, als man erfuhr, dass es eine Autorin und kein Mann war, der das Stück geschrieben hatte.
Sowerby verarbeitete in dem Familiendrama die eigenen Erfahrungen während der politischen Umwälzungen der Zeit des „Great Unrest“ in England, als es zu massiven Arbeiteraufständen gekommen war. Wie die Familie in ‚Rutherford & Son‘ erlebte auch sie Aufstieg und Untergang eines Fabriksimperiums, das mit der Fertigung von Pressglas seinen Reichtum begründet hatte.

Tim Breyvogel, Annette Holzmann, Franz Solar (c)Lex Karelly
Schon bevor der Vorhang hochgezogen wird, lässt die Soundschleife, zu welcher das Publikum Platz nimmt, keine Komödie erwarten. (Musik Levente Bencsik, Máté Hunyadi) Die Übersetzung für die aktuelle deutsche Fassung kommt von Gerhild Steinbuch. Die Dialoge sind knapp und kantig, ohne Schnörksel oder Umschreibungen und geben von Beginn an jene emotionale Kälte wieder, die in der Familie Rutherford herrscht. Jakab Tarnóczi zeichnet in seiner Regie die Personen ebenso nach, stellt dabei aber immer wieder die Frage „Wer bist du?“ in den Vordergrund. Er lässt das Bühnensetting von Eszter Kálmán in beständiger Rotation und verlangsamt diese bis zum Bewegungsstopp nur in jenen Dialogen, in welchen die Menschen tief in ihr Innerstes blicken lassen. Wenn sie jedoch alleine für sich zurückgezogen zu sehen sind, dreht sich das räumliche Geschehen in Höchstgeschwindigkeit. Eine großzügige Raumanordnung, unterteilt durch kaltes, grünes Wellblech, mit fabrikstreuen Neonlampen beleuchtet, verbreitet alles andere als heimelige Gemütlichkeit.

Mario Lopatte & Olivia Grigolli (c)Lex Karelly
Der Vater – eiskalt von Beginn bis zum Schluss von Franz Solar gespielt – ist ein Despot, der sein ganzes Tun und Trachten dem von seinem Vater vererbten Unternehmen untergeordnet hat. Er lebt mit seiner Schwester Ann und seiner Tochter Janet in einem noblen Haus am Lande in der Nähe der Fabrik und wird von den beiden Söhnen Richard und John mit dessen Frau Mary für einige Zeit besucht. Bis auf seine Schwester, die ihn als Familienoberhaupt abgöttisch verehrt und auch ihr Leben ihm ganz untergeordnet hat, tun das seine Kinder in keiner Weise. Ein Eklat ist vorprogrammiert.
John, der die Fabrik einmal übernehmen soll, lebt in London und tüftelt an einer Erfindung, welche die Glasindustrie „nachhaltig“ verändern soll. Er will dafür von seinem Vater viel Geld, der nicht einsieht, warum er ihm, der die Fabrik doch einmal erben wird, für diese Idee etwas bezahlen soll. Richard hat sich in die Spiritualität zurückgezogen und arbeitet als Pastor, der die Menschen – vornehmlich die Arbeiter der Fabrik – seelsorgerisch unterstützen möchte. Janet hilft ihrer Tante im Haushalt und erträgt sowohl ihre Launen als auch jene des Vaters ohne großen Widerstand. Dass sie ein Verhältnis mit Martin begonnen hat, der rechten Hand des Familientyrannen, verbirgt sie bewusst, wohl wissend, dass dies nicht goutiert werden würde.
Sowerby zeichnet die einzelnen Charaktere mit Leichtigkeit und dennoch scharf nach: Zuallererst Rutherford, der Tag und Nacht zu arbeiten scheint und nichts mehr hasst als Müßiggang, Schmarotzerei oder auch eine akademische Ausbildung – wie er seine Söhne mehrfach wissen lässt. Härte gegen sich und auch gegen alle anderen zeichnet seinen Charakter aus. Kein noch so kluges Argument kann ihn dazu veranlassen zu überdenken, welche persönlichen Dramen er mit seiner Rigorosität auslöst. Sein oberstes Ziel ist das Überleben der Firma, jenes der Familie hingegen lässt ihn kalt.
Seine Schwester Ann hält viel von seiner Geschäftstüchtigkeit und versucht, ihre Neffen und ihre Nichte permanent davon zu überzeugen, die Leistung ihres Vaters auch anzuerkennen. Sie ist stolz auf den erreichten Gesellschaftsstatus, jedoch von der Angst getrieben, durch Gerede lächerlich gemacht zu werden. Diese Vorstellung steigert sich bei ihr beinahe bis zum Wahnsinn, als sich das innerfamiliäre Drama nach außen nicht mehr verbergen lässt. Einzig der Rückzug in die alltäglich notwendigen Verrichtungen im Haus bietet ihr noch Schutz. Olivia Grigolli verändert in dieser Rolle nicht nur ihre Ausstrahlung von einer mondänen, selbstbewussten Dame hin zu einem gebrochenen Wesen, das Halt sucht, sondern auch ihren Kleidungsstil.
Janet erlebt in ihrer drei Monate andauernden Verliebtheit in Martin das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Dementsprechend entwickelt sie sich in dieser kurzen Zeit zu einer selbstbewussten Frau, die auch nach der größten Enttäuschung in ihrem Leben dieses erstmalig selbstbestimmt in die Hand nimmt und die Familie verlässt. Marielle Leyher ist die einzige der drei Geschwister, die ihrem Vater vor Augen führen kann, was er mit seiner rigorosen Arbeitsethik in den Seelen seiner Kinder angerichtet hat. Sie darf eine emotionelle Bandbreite zwischen Sarkasmus, Wut und Empörung hin zu tiefster Liebesempfindung ausspielen und überzeugt dabei in jeder Situation.

Franz Solar & Mario Lopatta (c)Lex Karelly
Janets Bruder John ist der Einzige, der trotz der Kälte im Haus kurze Hosen, etwas über Knielänge, trägt. Ein modischer Hinweis nicht nur auf das elitäre Selbstverständnis der britischen Familie, sondern auch auf sein pubertäres Verhalten, sich zwar gegen den Vater aufzulehnen, sich aber dennoch nicht aus eigener Kraft von ihm lösen zu können. Mario Lopatta verkörpert ein verzweifeltes Pendant-Ekelpaket seines Vaters, der seine Frau ebenso kaltherzig behandelt, wie er es von Kindesbeinen an gewöhnt war. Gebeutelt zwischen Größenwahnsinn, Depressionen und Wut hat er trotz aller Suche seinen Platz im Leben noch nicht gefunden.
Tim Breyvogel als permanent an sich zweifelnder junger Pastor ist sich bewusst, dass er in diesem, von ihm als emanzipatorisch gewählten Beruf, dennoch scheitert; zumindest in der unmittelbaren Umgebung seines allmächtigen Vaters. Vorgeführt wird ihm dies explizit mit der Aussage von Misses Henderson , die ihm während eines furiosen Wutanfalles ins Gesicht brüllt, welche Lachnummer er eigentlich ist. Dies, obwohl er sie in das Haus seines Vaters gebeten hat, um ihren Sohn zu rehabilitieren, welcher aus der Firmenkasse Geld gestohlen hat. Nach ihrem Auftritt, den Anke Stedingk mit einer Körperlichkeit ausstattet, die alle anderen Figuren daneben blass erscheinen lässt, beginnt das familiäre Kartenhaus nach und nach in sich zusammenzufallen.
Martin, der Geliebte von Janet, erweist sich als unentbehrlicher Helfer des Firmenchefs, der diesem bis zur Selbstaufgabe jeden Wunsch von den Lippen abliest. Thomas Kramer agiert in der Rolle als dankbarer, zugleich aber auch naiver Mensch, der all sein Glück vom Fortbestand des Unternehmens abhängig gemacht hat und auch nicht fähig ist, einen anderen Lebensentwurf neu anzudenken. Einzig bei seinem Dialog mit Rutherford Senior fangen am Theaterhimmel die Sterne hell und klar zu blinken an, verschwinden jedoch wieder, als auch dieser geschäftliche Lichtblick – aus Sicht des Fabrikbesitzers – erlischt.
Annette Holzmann verkörpert in der Rolle von Mary die ungeliebte und unbeachtete Schwiegertochter. Nicht von ungefähr trägt sie diesen Namen, wird ihr doch dringlichst bewusst, dass sie einst einen tiefgreifenden, emotionalen Verzicht eingehen wird müssen, um das Leben ihres Sohnes so gestalten zu können, damit er nicht in Armut aufwachsen muss. Sie weiß scharfsinnig um das eigene, vorprogrammierte Leiden, das sie dennoch zum Wohl ihres Kindes als geschäftlichen Handel anstößt. Mary ist die eigentliche Heldin des Stückes, die einen Showdown mit ihrem Schwiegervater hervorruft, der atemberaubend mitzuerleben ist. Auch bei ihr zeigt sich die charakterliche Veränderung in ihren Kostümen, trägt sie doch in den letzten Szenen einen Rock, der vom Schnitt her jenem ähnelt, den ihre Schwägerin Janet zu Beginn des Dramas trug. Damit signalisiert die Kostümbildnerin Ilka Giligia den Wechsel der weiblichen Hoheitsübernahme im Hause Rutherford. Es ist die Vorausschau, der Weitblick, aber auch die emotionale Klugheit dieser Rolle, die so enorm fesselt und verblüfft und sicherlich zum einstigen großen Erfolg dieses Theaterstückes gleich nach der ersten Aufführung beigetragen hat. Ein Umstand, der sich bis in unsere Zeit gehalten hat.
Am Ende bleibt Rutherford ganz ohne seine Söhne in seinem Haus, weiter von seiner Schwester und nunmehr auch von seiner Schwiegertochter und seinem Enkel begleitet. Die neue Familienkonstellation lässt jedoch auch persönliche Entwicklungen erahnen, die durch den letzten Abgang des in die Jahre gekommenen Firmen- und Familienoberhaupts angedeutet werden.
Dem Team des Schauspielhauses in Graz ist mit dieser Aufführung eine Überraschung gelungen, der im deutschsprachigen Raum zu Recht sicherlich eine größere Aufmerksamkeit zuteilwerden wird.
Wer etwas tiefer in die Geschichte der Autorin und ihrem Stück eintauchen möchte, sei dieser Artikel des Guardian aus dem Jahr 2009 empfohlen: https://www.theguardian.com/stage/2009/aug/14/githa-sowerby-playwright-rutherford-son