Philoktet – nimm dich in Acht vor Guido Westerwelle

Philoktet

Philoktet von Heiner Müller am TNS in Straßburg (c) Mario del Curto

Am TNS (Nationaltheater) in Straßburg gibt sich derzeit Heiner Müller mit dem Stück Philoktet die Ehre. Das von Jean Jourdheuil übersetzte und in Szene gesetzte Drama besitzt zeitgenössische politische Brisanz und dies, obwohl es bei seiner Entstehung in einem völlig anderen zeitgeschichtlichen politischen Kontext stand.

Der während seiner Entstehung zwischen 1958 und 1964 in Ostberlin lebende Heiner Müller nahm das ursprünglich von Sophokles verfasste Stück zum Anlass, indirekt Kritik an der kommunistischen Gleichschaltung der Gesellschaft im Osten zu üben. Wie schon André Gide ein gutes halbes Jahrhundert vor ihm, beschäftigte ihn die Persönlichkeit der Protagonisten und ihre Entwicklung weitaus mehr als die gesellschaftlichen Phänomene, wie sie noch bei Sophokles im Vordergrund standen.

Philoktet ist bei Heiner Müller ein vom Schicksal geschlagener Mann, der von Odysseus nach einer Schlacht gegen die Trojaner auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt wurde, da sein Geschrei und der Gestank seines verstümmelten Fußes am Schiff nicht mehr zu ertragen gewesen waren. Nach 10 Jahren vergeblichen Kampfes gegen die Trojaner erinnert sich Odysseus, dass ihm der von den Göttern geweihte Bogen des Philoktet nützlich sein könnte und überredet Neoptolemos dazu, ihn mit List Philoktet zu entlocken. Neoptolemos ist jedoch von Odysseus Vorhaben wenig begeistert, steht er doch selbst in Feindschaft mit diesem, da dieser ihm die Kampfesinsignien seines Vaters entwendet hat, nachdem er in einer Schlacht gefallen war.  So sehr die drei Männer Philoktet (Maurice Bénichou), Odysseus (Marc Berman) und Neoptolemos (Marc Barbé) auch in der Mission um den trojanischen Krieg verbunden sind, so sehr trennt sie ihr jeweiliger Charakter und ihr Schicksal voneinander. Das karge Bühnenbild Mark Lammerts, das sich auf einen drehbaren, grauen Keil beschränkt, der als Sinnbild für Lemnos, die von Philoktet bewohnte Insel steht und ein zu Beginn des Stückes vom Schnürlboden auf die Bühne geschleuderter Pfeil ist alles, was den Ort und die Umstände der Handlung näher beschreibt. Die drei Männer tragen Alltagskleidung – Philoktets faulender Fuß wird durch einen schwarzen Wadenwärmer markiert. Mehr braucht es nicht, um den bis an den Rand der Erträglichkeit getriebenen Existenzialismus Müllers zu verdeutlichen.

Bei diesem Stück bewahrheitet sich aullerdings eine Grundaussage, die   gute Kunst charakterisiert – nämlich dass sie zeitlos ist und immer wieder neu adaptiert werden kann –  ganz besonders. Philoktet wird von der Gesellschaft deswegen ausgestoßen, weil er ihr nicht mehr nützlich sein kann. In seiner Verbannung bleibt ihm, neben seinem Überlebenskampf, der vor allem auch in psychischer Hinsicht eine große Herausforderung darstellt, nichts als der Hass auf Odysseus, der ihn zum Schluss auch sein Leben kostet.  Philoktet hasst jenen Mann, der zugunsten – oder besser seiner Ansicht nach  – zugunsten der griechischen Gemeinschaft dieses Verbrechen an Philoktet begeht. Er setzt Philoktet mit List auf der Insel aus, um sein Schmerzgeschrei und den Gestank seines eiternden Fußes nicht weiter mitanhören und mitansehen zu müssen, aber er hat auch keinerlei Skrupel, Philoktet ein zweites Mal betrügen zu wollen – wieder durch die angebliche Legitimation der Gesellschaft. Neoptolemos, der ihm dabei helfen soll, ist ein schwankender, junger Mann, der zwar die Ehrhaftigkeit seines Vaters, Achills, in sich verspürt, andererseits aber ungefestigt im Charakter schlussendlich Philoktet tötet, als dieser gegen Odysseus den Pfeil abschießen möchte.

Warum fällt mir bei dieser, so spartanisch inszenierten Vorführung nur immer wieder der derzeitige, deutsche Außenminister Guido Westerwelle ein? Nicht seine Aussage, von der dekadenten, spätrömischen Gesellschaft ist es, die er mit der heutigen, deutschen vergleicht –und im selben Atemzug die „Sozialschmarotzer“ damit anspricht. Was an sich gesehen schon ein Widerspruch ist, aber Herrn Westerwelle muss man an dieser Stelle nicht noch einmal Nachhilfeunterricht in Geschichte geben, was ohnehin knapp und pointiert schon Heiner Geißler tat. Vielmehr sind es seine – aber auch viele andere Tiraden von Politikern, die  in der von ihnen sogenannten „Mitte“ oder rechts von ihr stehen, egal ob in Deutschland oder Frankreich – die sich im Vergleich zu Müllers Stück so aufdrängen. Sie alle würden am liebsten all jene, die unserer Gesellschaft vordergründig nicht dienlich zu sein scheinen auf eine unbewohnte Insel schicken, auf der es keine Bankkonten zur Überweisung von Sozialhilfe gibt und auf der diese Menschen, tunlichst außer Hör- und Sichtweite „gehalten“ werden könnten. Aus diesem Gesichtspunkt heraus ist Philoktet von Heiner Müller heute mehr als je zuvor aktuell. Es steht aber zu befürchten, dass es nur die Intellektuellen aufrüttelt, die ohnehin diese Problematiken schon bis zum Überdruss erkannt haben.

Philoktet in Straßburg ist, auch aufgrund der artifiziellen Sprache Müllers, so intellektuell verpackt, dass es kaum einen emotionalen Zugang bietet.  Dies wäre vielleicht eine kleine Chance gewesen, die hier ergriffen werden hätte können, um noch mehr Menschen davon zu überzeugen, dass die Gesellschaft, wenn sie sich gegen den Humanismus auf zwingende, wirtschaftliche Notwendigkeiten der Allgemeinheit beruft, falsch liegt. Maurice Bénichous Philoktet berührt durch eine wahrhaftige Wiedergabe seiner Starrköpfigkeit und seines aufbrausenden Temperamentes genauso, wie durch seine Verletzung und Zurückgeworfenheit auf seine Isolation im Alter. Marc Barbé und Marc Berman hingegen halten sich strikt an einen Vortrag, der nur aus dem Text heraus, jedoch nicht aus der Wiedergabe einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch

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