Die Landstraße als Weltbühne

Mit lautem „Rrrrums“ fährt die alte, verlotterte Bushaltestelle mit dem kleinen, mit Wellblech überdeckten Dach durch den Boden auf die Bühne. So, als hätte sich soeben die Erde gespalten und das ausgespuckt, was sie nicht mehr brauchen kann. Dieser ‚deus ex machina-Effekt’ erschreckt kurz das Publikum, erfreut jedoch Peter Handkes „Ich“, herausragend dargestellt von Christopher Nell, den der Regisseur Claus Peymann von seinem Berliner Ensemble an die Burg mitgebracht hat. Der schlanke, junge Mann mit dem charakteristischen Profil und einer klaren Countertenorstimme, die er in dieser Inszenierung mehrfach einsetzen kann, ist der uneingeschränkte Star des Abends.

Ensemble (Die Unschuldigen), Christopher Nell („Ich“) (c) Monika Rittershaus

Ensemble (Die Unschuldigen), Christopher Nell („Ich“) (c) Monika Rittershaus

In seiner Rolle, die zwischen dem „Ich, Erzähler“ und „Ich, der Dramatische“ beständig wechselt, verweist er permanent auf die Autorenfigur, Peter Handke selbst. In dem Stück „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“ mit dem Untertitel ‚Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten’, das nun am Burgtheater seine Uraufführung erlebte, stellt Handke seine Person selbst in den Mittelpunkt des Geschehens, das eigentlich gar kein Geschehen ist. Umso eindrucksvoller ist die Regieleistung von Claus Peymann, der aus den Gedankenkaskaden, gespickt mit Wortspielen und einer großen Anzahl von poetischen Bildern ein Bühnenereignis gestaltete, das in keiner Minute, der insgesamt drei Stunden dauernden Aufführung, Langeweile evoziert. Vielmehr sind es Bilder, wie das schon beschriebene, unerwartete Auftauchen des Unterstandes entlang der Landstraße, aber auch jene eindrucksvolle Szene, in welcher sich „die Unschuldigen“ in einer Trauerprozession inklusive zerfleddertem Baldachin und explodierender Monstranz auf die Bühne mehr schleppen als gehen, die eine unglaubliche, theatralische Magie ausstrahlen.

Peymann, der seine kurzfristige Rückkehr an die Burg während seiner Dankes-Verbeugungen am Ende des Stückes inmitten des Ensembles sichtlich genoss, nutzte den Text, um ihn zumindest zeitweise in eine Bildsprache zu übersetzen, die einer musikalischen Partitur gleicht. Wie er zu Beginn die frühlingshafte Einstiegszenerie mit Vogelstimmen und fallenden Blütenblättern illustriert, später dann die Wetterbeschreibung von Blitz und Donner mit dementsprechenden Geräuschen und Lichteinsätzen unterstreicht, erinnert an plakatives, barockes Theater genauso wie an die sogenannte Programmmusik, in welcher nicht nur die Stimmungen des Librettos, sondern auch einzelne Worte dementsprechend unterstrichen und ausgedrückt wurden. Es ist nicht nur Handke, den Peymann hier zelebriert, sondern das Theater selbst. An seiner Seite hat er dafür einen langjährigen Weggefährten, Karl-Ernst Herrmann, der geschickt zwischen Überraschungseffekten und minimal erscheinendem Bühnenbild- und Requisiteneinsatz balanciert.

Der Text von Handke wurde mit großzügigen Strichen versehen, andernfalls wäre eine mindestens doppelt bis dreifach so lange Aufführungsdauer zu veranschlagen gewesen. Zwar gehen dadurch viele brillante Satzkonstruktionen verloren, viele Gedankengänge, die sich bei Handke oft in kleinen Mäandern rund um ein Wort oder eine Idee entwickeln. Es fehlen vor allem jene Naturbeobachtungen, die der Autor wie kein Zweiter in der zeitgenössischen Literatur auf so einfühlsame und zugleich kenntnisreiche Art und Weise wiedergibt. Andererseits gelingt durch diese Straffung ein fokussierter Blick auf die Dramatik, die in diesem Werk steckt. Wie durch ein Brennglas wird das Aufeinanderprallen zweier grundverschiedener Weltanschauungen demonstriert. Jener, in der die Masse Mensch, Handke bezeichnet sie an einer Stelle als „Unschuldigenfalle“, der Mainstream, einem einzelnen Individuum gegenübergestellt wird. Dieses sucht sein Heil darin, sich, so gut es geht, von der mit Menschen bevölkerten Welt zurückzuziehen, nachzudenken, die Natur zu beobachten und – ein zentrales Thema in dem Werk – sich dennoch auf andere Menschen im direkten Kontakt auch einzulassen.

Handke stellt sein „Ich“ nicht als Eremit dar. Zwar kämpft Nell mit Vehemenz und viel Körpereinsatz dafür, sein Stückchen Landstraße zu verteidigen, diesen letzten „noch nicht gegoogelten Ort“. Zwar schleudert er in einem furiosen Monolog den Unschuldigen eine wahre Anklageflut entgegen und gerät dabei so außer Rage, dass er jene „Unbekannte“ (Regina Fritsch als elegante, lebendige und zugleich einzige, intellektuelle Gegenspielerin), auf die er sein ganzes Leben wartete und die ihm zum Sinnbild für seine Erlösung wurde, dabei noch kräftig körperlich malträtiert. Aber seine anfänglich unterwürfige Ehrerbietung dem „Häuptling, Wortführer oder Capo“ gegenüber und sein späterer Dialog mit ihm, in dem beide gemeinsame Erinnerungen aufleben lassen, machen klar, dass er im Grunde den Austausch mit Menschen und ihre Anerkennung sucht.

Martin Schwab verkörpert den auf den ersten Blick despotischen Anführer, der sich jedoch im entscheidenden Moment, in der verbalen Auseinandersetzung mit dem „dramatischen Ich“, von seiner geifernden Frau Fragen einflüstern lässt, die den träumenden und schwärmenden Menschen in die Enge treiben sollen. In grellem, roten Kleid und im zweiten Teil mit zu Berge stehenden Haaren, wunderbar komödiantisch, aber zugleich auch bemitleidenswert setzt Maria Happel diese Figur in Szene. Ihr „Koloraturlachen“, sonst ein ihr eigenes Lebenshilfemittel, verstummt nur während ihres Lamentos. Darin führt sie, wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, all jene Verletzungen an, die ihr von Männern zugefügt wurden, denen sie sich immer bedingungslos hingab. Handke benötigt für die Konsumkritik, unverzichtbar in jeder zeitgeistigen Aufführung, in seiner Verteidigung nicht mehr als den Hinweis, dass ihm der Häuptling als Buben um ein lächerliches Geld einen Teller selbst gepflückter „Schwarzbeeren, Heidelbeeren, Blaubeeren“ abkaufte. Dieses kleine Beispiel einer unrechtmäßigen Entlohnung reicht, um das System anzuprangern, in welchem das Gros der Menschen heute gefangen ist.

Die Verteidigung seiner Landstraße gegenüber einer Horde sinnlos mit Handy Telefonierenden, von Landvermessern, die in ihrem Stechschrittgehabe nichts außer Maßeinheiten in ihrem Kopf haben, von Prozessionsbeteiligten, deren Singsang durch die Explosion der Monstranz unterbrochen wird, deren Gejammer jedoch unerhört bleibt, kann symbolisch auch für all jene gesehen werden, die als reflektierte Außenseiter ihr eigenes Leben permanent gegenüber anderen rechtfertigen müssen. Es ist keine Verteidigung von Land, das man liebgewonnen hat. Es ist die Demonstration einer Geisteshaltung, die zugleich die Natur und den Menschen in den Mittelpunkt des Denkens und Fühlens stellt. Dass Peymann einen Großteil des Geschehens in einer Traumwiedergabeszene abhandelt, ist von Handke in seinem Text angelegt. An jener Stelle, an der der Regisseur den „Ich-Erzähler“ auf seinem Wellblech-Unterschlupf einschlafen lässt, schreibt der Autor davon, sich selbst als Randfigur, einen Zuschauenden, vielleicht sogar Schlafenden zu sehen. Ein stilistisches Moment, das in vielen seiner Werke vorkommt und in einem sehr guten Überblick im höchst bibliophilen Programmheft gewürdigt wurde.

Der Vierfach-Schluss, von einem Herren in einer Loge mit „na geh, bitte, wir wissen eh, dass schon aus is`“, kommentiert, ist der einzige Wermutstropfen des Abends. „Und noch nie, kein einziges Mal im Leben, ist mir, im Phantasieren eines Dramas, ein Ende geglückt“, schreibt Handke dazu selbst in seinem Text, ungefähr 10 Seiten vor dem eigentlichen Ende. Auch das hat Peymann eins zu eins umgesetzt.

Ein Abend, randvoll, nicht nur mit Theaterzauber. Eine Vorstellung, die zu gleichen Teilen von seinem vielschichtigen und intelligenten Text, aber auch der schauspielerischen Leistung des gesamten Ensembles getragen wird. Ein Theatererlebnis, bei dem es gelingt, ganz in das Nicht-Geschehen einzutauchen, ohne dem Gefühl zu verfallen, nur unterhalten zu werden. Ein wunderbares Beispiel, wie sich die Quadratur des Theaterkreises schließen kann.

In weiteren Rollen: Krista Birkner, Franz J. Csencsits, Anatol Käbisch, Hans Dieter Knebel, Bededikt Paulun, Hermann Scheidleder, Felix Strobel, Fabian Stromberger

Infos und Termine auf der Homepage des Burgtheaters.

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