Archaische Gestalten – zwei Könige, ein weissagender Sonderling, zwei junge Frauen, zwei junge Männer und ein Zwitterwesen zwischen Mensch und Schwalbe – Figuren, die uns eigentlich nur vom Lesen her vertraut sind, vereinigen sich auf der Bühne des TNS in Straßburg und spielen das Spiel rund um den tragischen Helden Ödipus.
Sie verstricken sich in Gefühle und Worte, treiben sich selbst in den Abgrund und hinterlassen das Gefühl, als hätten wir selbst soeben etwas gesehen, das lange verschüttet war und gerade deswegen Widerhall in uns findet. Aber nicht Sophokles oder Euripides wird im Stück „Unter Ödipus´Augen“ gespielt, sondern eine eigene Interpretation des Geschehens innerhalb der Familie der Labdakos, geschrieben von Joёl Jouanneau. Der 1946 geboren Schriftsteller steht damit in einer erst vor kurzem begonnen Tradition der Bearbeitung griechischer Dramen, die sich nicht mehr allein mit der Übersetzung in eine moderne Sprache begnügen, sondern – wie in Jouanneaus Fall – sogar eine eigene Version aufweisen. Anne Carson oder Franc McGuiness sind Protagonisten dieser noch jungen, literarischen Form im englischsprachigen Raum, Michael Köhlmeier ist im deutschen Sprachraum für seine Neuinterpretationen griechischer Klassiker bekannt geworden. Joёl Jouanneau jedoch geht noch einen Schritt weiter. Er verwendet Euripides und Sophokles nicht als Übersetzungsausgang, sondern vielmehr als Ideengeber und Stichwortlieferer für ihren eigenen Text. Einen Text, der sich mit den Fragen auseinandersetzt: Was ist ein Fluch und wie wirkt er, was bedeutet Exil und welche innerfamiliären Mechanismen lassen Familien schließlich auch zerbrechen.
In seiner Interpretation ist er jedoch weit weg von einer schnoddrigen, zeitgeistigen Sprache. Vielmehr verfällt er oft – ob bewusst oder unbewusst – in das Diktum der uns durch die Übersetzungen vertrauten griechischen Satzkonstruktionen, in denen sich häufig in geballter Form die Dramatik zu überschlagen scheint. Alleine der Satz „Nenne nie einen Mann glücklich, bevor er nicht die Schwelle des Lebens übertreten hat“ den er dem Zwitterwesen der Eumenide in den Mund legt, soll hier aufzeigen, mit welch gewaltigen, ja schier unauslotbaren Weisheiten er seine Figuren ausstattet. Jede der Figuren trägt einige dieser tiefgründigen Sätze wie Banner vor sich her und dennoch gelingt es ihnen nicht, trotz ihres Wissens und ihrer sprachlichen Gewandtheit, sich über ihr eigenes Schicksal zu erheben und die Tragik abzuschütteln.
Der Fluch des Ödipus, der, ohne gewusst zu haben wen er ermordete, seinen leiblichen Vater erschlug und dann, ebenfalls völlig ahnungslos, seine eigene Mutter heiratete, dieser Fluch wird erst wirksam in jenem Moment, indem Ödipus erkennt, dass er diese Schandtaten begangen hat. Seine zwei Söhne und seine zwei Töchter, sowie Jokaste seine Mutter – Frau, auch bei ihnen schlägt erst in diesem Augenblick das erbarmungslose Schicksal zu, das schließlich die gesamte Familie auslöschen wird. Ödipus, der, wie auch andere seiner Familie, durch seine apodiktische Haltung sich selbst bestraft, wird als Mann dargestellt, der nicht wirklich an seinem Schicksal zerbricht. Vielmehr überschreitet er jenen Punkt, der ihn, ohnehin schon sakrosankt, außerhalb moralischer oder ethischer Restriktionen ansiedelt. Er weiß, dass ihn kein größeres Unglück als das schon erlittene im Exil mehr treffen kann und reagiert darauf trotzig. Konventionen haben für ihn keine Gültigkeit mehr und Vorschriften befolgt er nicht einmal mehr im Ansatz. „Von hier bringt mich niemand mehr weg“ verkündet er lauthals, auch nachdem er erfahren hat, dass er sich auf geweihtem Boden befindet, der nicht betreten werden darf. Die Erkenntnis, er habe sich eigentlich zu Unrecht bestraft und selbst geblendet, denn er habe in Unkenntnis der Sachlage seine angeprangerten Taten begangen und sei damit nicht schuldig, kommt jedoch zu spät. Gelassen verabschiedet er sich vom Leben, in dem Gefühl, der Betrogene in diesem grausamen Götterspiel gewesen zu sein.
Seine Töchter Antigone und Ismene, sowie seine Söhne Polyneikes und Eteokles hingegen bleiben in den Fallstricken ihrer kindlich erlebten Traumata hängen. Eteokles, der sich seinem älteren Bruder immer unterlegen fühlte und die Liebe seines Vaters vermisste, rächt sich, als er den Thron innehat und ihn nicht mehr, wie ursprünglich vereinbart, an seinen älteren Bruder zurück gibt. Vergeblich versucht der verwöhnte Polyneikes, Hilfe bei seinem Vater zu holen und seinen Bruder durch Worte umzustimmen, um schließlich doch – wider jede Vernunft – gegen ihn in den Kampf zu ziehen. Ismenes Klage gegenüber ihren beiden Brüdern, dass ihre Fronten zu verhärtet seien, sodass keiner von ihnen einen Schritt zur Seite machen könne und ihre Bitte, sich doch noch zu besinnen, bleibt ohne Reaktion, zu sehr sind sich die Brüder bereits zum Feind geworden. Was in ihrer Kinderzeit den Anschein unzerbrechlicher Brüderlichkeit hatte, war nichts als Makulatur. Eteokles Verbitterung zeigt er erst, als sein Vater nicht mehr am Leben ist und dennoch erkennt er nicht, dass es ihm nicht gelungen ist, tatsächlich aus seiner Abhängigkeit von Ödipus zu entkommen. Antigone fühlt sich ähnlich um die Vaterliebe betrogen, jedoch ist es ihre jüngere Schwester Ismene, welche die gesamte Aufmerksamkeit Ödipus auf sich zog. Polyneikes wird so, ersatzweise, oder, um Siegmund Freud zu bemühen, durch Übertragung, zu Antigones Liebesobjekt und lässt sich dies auch, solange er davon profitiert, gefallen. Selbst im Angesicht des Todes überwindet er seine Egozentrik nicht und bittet Antigone, ihn nach seinem Tode zu beerdigen, obwohl er weiß, dass er seine Schwester durch diesen Gesetzesungehorsam ebenso in den Tod schickt.Diese ist und bleibt liebesverblendet und kann und will nicht sehen, dass diese Liebe nicht in gleicher Weise erwidert wurde.
Mit der Präsenz von Kadmos, dem Begründer Thebens, spinnt der Autor den Faden der Geschichte noch weiter zurück und macht somit deutlich, dass es nicht nur Eltern und Großeltern sind, die die Geschicke ihrer Nachkommen ursächlich beeinflussen. Der blinde Seher Teiresias, der das Geschehen mit seinen Weissagungen begleitet und vorantreibt, ist bei Jouanneau eine Gestalt, die mit Intelligenz und Feingefühl ausgestattet ist. Sein häufiger Wechsel in eine unverständliche, urtümlich klingende Sprache, macht deutlich, dass sein Wissen nicht nur den aktuellen Fall von Ödipus beschreibt, sondern auf uralte Archetypen zurückgreift, die C.G. Jung im 20. Jahrhundert als solche bezeichnete. Gemeinsam mit seiner „Übersetzerin“ Eumenide steht er außerhalb der menschlichen Tragik, wenngleich seine Erscheinung selbst an Tragik nicht mehr zu überbieten ist.
Ismene schließlich, die in den griechischen Überlieferungen nur ganz ephemer erwähnt wird, sie ist die einzig Überlebende, allein durch Antigones beherztes Einschreiten. Denn Ismene bekennt sich vor Kadmos schuldig, ihrer Schwester bei der unerlaubten Beerdigung ihres Bruders geholfen zu haben. Sie würde lieber den Tod wählen, als alleine zu bleiben, doch Antigone lässt dies nicht zu. Zumindest ihren Tod will sie nicht mit ihrer Schwester teilen müssen.
Hedi Tillette de Clermont-Tonnerre als Teiresias brilliert schauspielerisch in der Rolle als weissagender Außenseiter. Auch sein archaisch anmutendes Kostüm trägt viel dazu bei, dass er seine schamanischen Fähigkeiten glaubwürdig über den Bühnenrand transportiert. Mélanie Couillaud als Eumenide lehnt sich gerade durch ihre ausgefallene Körpersprache weit hinein in das ihr zugeschriebene Zwitterwesen. Auch Cécile Garcia-Fogel als Antigone und Sabrina Kouroughli als Ismene füllen ihre Rollen als sich liebende und dennoch in Konkurrenz stehende Schwestern ideal aus. Philippe Demarle in der Rolle des Polyneikes ist ein wunderbarer Widerpart zu Eteokles, der von Alexandre Zeff glaubwürdig wiedergegeben wird. Das Bild, ihn von einer Sekunde auf die andere vom strahlend hellen Saubermann in die schwarze, von Macht besessene Gestalt zu verwandeln, indem er seinen weiten, weißen Mantel ablegt und darunter sein schwarzer Anzug zum Vorschein kommt, wird noch lange im Gedächtnis bleiben. Bruno Sermonne als Kadmos blieb sehr in einer eigentlich schon vergangenen, extrem artifiziellen Bühnensprache verhaftet. Ob dies der Regie zugrunde liegt, oder der Schauspieler selbst sich gerne darin ausdrückt, bleibt unbeantwortet. Jacques Bonnaffé in der Doppelrolle des Ödipus und des Wächters, der Kadmos vom Ungehorsam Antigones berichtet, zieht alle schauspielerischen Register. Von generös erhaben bis trotzig rebellisch und in der Wächterrolle tragik-komisch, gibt er all die unterschiedlichen charakterlichen Ausdruckmöglichkeiten wieder.
Die Inszenierung, ebenfalls von Jouanneau, reduziert auf das Nötigste, trägt aufgrund der Kostüme und auch akustischen Einspielungen die Gedanken des Publikums leichtfüßig in das archaische Griechenland. Das Möwengeschrei, das Unheil verkündende Worte unterstreicht, oder die geheimnisvollen Gesten Eumenides, sowie die unglaublich starke Interpretation Teiresias, der an der Kippe zwischen Verzweiflung, Wahnsinn und Weitblick agiert und immer wieder in Beschwörungstänze versinkt, lassen keine direkte, aktuelle Zeitbezogenheit zu. Umso beeindruckender ist die Wirkung des Stückes „Unter Ödipus Auge“. Es lässt dennoch erschaudern, wahrscheinlich vor unseren eigenen familiären Tragödien und unserer eigenen undurchdringbaren Lebensverstricktheit. Wer dies nach der Aufführung nicht gefühlt hat, darf sich getrost als Liebling der Götter bezeichnen.
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