„Noch ein Lied vom Tod“ von Juliane Stadelmann garantiert derzeit im Schauspielhaus Wien Lacher und Gänsehaut.
Zwei Kleinkinder, zwei und drei Jahre alt, verrecken – es muss so krass ausgedrückt werden – unbeaufsichtigt in einer Wohnung. Sie verdursten, weil ihre Mutter sie alleine zurückließ und niemand aus der Nachbarschaft ihnen zu Hilfe kam. Dieses Horrorszenario ist kein für die Bühne erdachtes. Vielmehr geschah dieses Drama 1999 in Frankfurt an der Oder tatsächlich. Stadelmann, Jahrgang 1985, belegte mit ihrem ersten Stück „Ingrid Ex Machina“ im Vorjahr den dritten Platz beim Münchner Förderpreis für deutschsprachige Drammatik“. Mit „Noch ein Lied vom Tod“ erhielt sie das Hans-Gratzer-Stipendium am Schauspielhaus. Darin verarbeitet sie das grausige Geschehen, für das nur die Mutter rechtlich zur Verantwortung gezogen wurde, auf eine ganz spezielle Art und Weise.
„Noch ein Lied vom Tod“ – dieser Titel evoziert ad hoc nicht nur die berühmte Mundharmonikamelodie des Italo-Westerns von Sergio Leone. Gemeinsam mit dem ersten Bild – einem Tumbleweed, das quer über die Bühne rollt und einem überdimensionalen Kaktus – wähnt man sich ad hoc in einer kargen Wildwestlandschaft. Wäre da nicht ein abstraktes Bühnenkonstrukt, in das zwei lange Gänge eingeschrieben sind, aus welchen immer wieder – kasperltheaterhaft – die Figuren unerwartet auf- und abtauchen. Und wäre da nicht der Flüsterchor, der das scheinbar vom Wind bewegte Tumbleweed in Reimform archaisch begleitet. Möge das Spiel beginnen.
Ob Westen oder Osten – das Thema ist universal
Die Regisseurin Daniela Kranz, auch für die Ausstattung verantwortlich, übersetzt das Changieren des Geschehens zwischen einer Bar im Nowhere des Wildem Westens und einer ebensolchen in einem tristem Plattenbau höchst intelligent. Sie führt die Beteiligten durch überzogene Schminke und Kostüme regelrecht vor, belässt ihnen aber jenen flapsigen Ton, mit dem Stadelmann nah an der Realität bleibt. An der knapp bemessenen Sprache gibt es kein Wort zuviel. Kommissar Udo platzt in eine Vorstadtkneipe, in der die Langeweile Stammgast ist. Florian von Manteuffel hat, so erweckt es den Eindruck, seit Beginn seines Engagements in Wien Kommissare, Polizisten und andere ähnliche Charaktere automatisch gepachtet. Der kleine Tom-Tom, alterslos, durchtrieben und undurchschaubar, hält sich dort mit der Bestatterin Clara und Hans, dem Wirt, auf. Gesprochen wird nicht viel, was auch. Man kennt sich schließlich. Simon Zagermann trägt in seiner Rolle als Tom-Tom eine schwarze Melone und einen Stock und erinnert damit an die Hauptfigur Alexander DeLarge, den Anführer der Jugendbande im Film Clockwork Orange. Clara, gespielt von Johanna Tomek, könnte auch von Fassbinder engagiert worden sein. Ihrer Berufung folgte sie nolens volens, nachdem ihre beabsichtigte Karriere als Kindergärtnerin aufgrund einer zuvor durchzechten Nacht gleich am ersten Tag beendet worden war. Hans, der wortkarge Barkeeper, wir köstlich vom sonst so schlanken Steffen Höld gespielt. Sein Embonpoint, der ihm unter die Trainingsjacke geschoben wurde, erheitert gleich zu Beginn das Stammpublikum. Die junge, naive Nadine (Barbara Horvath) ist dazu ausersehen, den Kommissar zu verführen. Das unliebsame Subjekt, das von außen die Ruhe zu stören scheint, wird auf diese Weise liebevoll neutralisiert.
Tackenförster und Ottenzwerg, von Martin Vischer und Gideon Maoz dargestellt, verkörpern zwei umherstreunende, halb verwahrloste Freunde, die sich vor dem Kommissar, aber vor allem vorm Schlafen fürchten. Nicht zu Unrecht, wie sich noch herausstellen wird. Die beiden Schauspieler brillierten im Duo bereits in Peter Lichts „Das Sausen der Welt“ und sind auch in dieser Inszenierung ein Traumpaar. Unbändig frech und dominierend der eine, ständig rotzig und wunderbar kindisch nachäffend der andere, schließt man sie umgehend ins Herz. Wenn man um die Vorgeschichte weiß, fallen einem die Lacher schwer, die sie permanent auslösen. Geht man unbeleckt in das Stück, entsteht der Kloß im Hals erst zum Schluss.
Subjektives Zeitempfinden und Wünsche en masse
Die Zeit scheint für manche Figuren stillzustehen, sich sogar nach rückwärts zu drehen, wie dies „Udo Sheriff Kommissar“ erfahren muss. Sein zu Beginn so hoffnungsfrohes Eingreifen und seine Aufklärungswut gerinnen im Laufe des Stückes zu einem Lippenbekenntnis. Andere wiederum, wie die beiden Kinder, erleben Zeit als etwas Undurchschaubares, Unkalkulierbares, am Ende Bedrohliches. Träume und Hoffnungen gibt es in diesem Stück viele. So wünscht sich Hans einen „putzigen“ Makaken als Aushilfe in seiner Kneipe, Nadine ein Kind, das ihr schon im Traum erschienen ist und Tom-Tom die Einweihung in das Geschäft von Clara. Das weitere Geschehen oszilliert zwischen Erzähltem und Erlebtem. Die Frage nach der Schuld bleibt unbeantwortet. Wenngleich klar wird: Unschuldige gibt es hier, bis auf die Opfer, keine.
Stadelmann strickt aus ihrem Text ein Gewebe aus Traum und Wirklichkeit, braut ein Amalgam aus Witz und Grauen – wie in den allerbesten Krimis der komischen Gattung. Ihre Metabotschaft kommt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern reduziert sich auf eine phantastische und allegorische Beschreibung eines elenden Istzustandes unserer Gesellschaft. Die vordergründig federleichte Verpackung des Themas und das Können des gesamten Ensembles machen den Reiz dieses Abends aus.
Im Schlussbild fegt ein Tumbleweed, abermals von einem halbgeflüsterten Chor begleitet, über die Bühne. Das Spiel ist aus. Bis zur nächsten Schreckensmeldung in den Medien.