Nitsch und seine Musik
02. November 2023
Anlässlich des 85. Geburtstages von Hermann Nitsch lud die Nitsch-Foundation zu einem Konzert in den Wiener Musikverein. Der Künstler wurde weltweit durch seine Schüttbilder und seine Aktionskunst im Hof seines Schlosses in Prinzendorf bekannt und stieg in den vergangenen Jahrzehnten auch zum Bigseller auf. Dass er auch komponierte, ist weniger bekannt.
Michaela Preiner
Foto: (Nitsch Foundation)

Zwar liegt das auf der Hand, denn sein Orgien Mysterien Theater ist ohne Unterlass von Live-Musik begleitet. Dass Nitsch selbst jedoch die Kompositionen geschrieben hat, gelangte nicht an eine größere Öffentlichkeit.

Obwohl seine Stücke ursprünglich nur für die Performances gedacht waren und er selbst einmal davon sprach, dass sie nur in dem Kontext aufgeführt werden sollten, revidierte er später diese Ansicht. Seine Symphonie Nr. 9 – „Die Ägyptische“ – wollte er doch wenigstens einmal in einem Konzertsaal hören. Die Tatsache, dass sie nun, posthum, im Wiener Musikverein erklang, gespielt vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester unter der Leitung des jungen Dirigenten Patrick Hahn, hätte ihm wahrscheinlich gefallen.

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Tonkünstler-Orchester vor dem Musikverein (Foto: Martina Siebenhandl)

Webern, Wagner und Skrjabin

Der Titel des Konzertes war Programm, denn im ersten Teil des Abends wurden drei Stücke präsentiert, die für Hermann Nitsch nach eigenen Aussagen wichtig waren. Zu Beginn wurden Anton Weberns „6 Stücke für Orchester op. 6“ aufgeführt: eine radikale Minimalisierung von musikalischen Ideen, bis hin zur Skizzenhaftigkeit. Danach erklangen Richard Wagners Vorspiel von „Tristan und Isolde“ sowie Alexander Skrjabins „«Le Poème de l‘Extase» op. 54.Der Dirigent nahm sich die Freiheit, die Stücke so aneinanderzusetzen, dass keine Pause entstand und somit zu Wagners Werk nicht geklatscht werden konnte. Vielmehr verdeutlichte der fließende Übergang der beiden Kompositionen ihre starke Nähe und erlaubte einen Vergleich, der direkter nicht gestaltet werden kann.

Die Idee passte hervorragend zu dem Abend, in dessen zweiten Teil eine Musik zu hören war, die – obgleich sie sich in die zeitgenössische Musikproduktion perfekt einreiht – dennoch für einige aus dem Publikum eine Herausforderung darstellte.

Albert Hosp, bekannt von seinen profunden Ö1-Moderationen, gestaltete nicht nur eine Einführung zum kompositorischen Schaffen von Nitsch mit musikalischen Vergleichsbeispielen, sondern moderierte auch im großen Saal. Dabei legte er  Wert auf den Blick des Neuen in der Musik, dem auch Webern und Schönberg im Musikverein einst ausgesetzt waren.

Symphonie Nr. 9 „Die Ägyptische“

Den Titel „Die Ägyptische“ wählte Nitsch, da er in der Komposition Erinnerungen an seine Ägyptenreise verarbeitet hatte. Im Herbst 2010 äußerte er sich in den Doblinger Verlagsnachrichten „Klang:punkte 31“ folgendermaßen: „Die Wahl des Beinamens ‚Ägyptische‘ für diese Symphonie resultiert aus den Eindrücken meiner Ägypten-Reise zu Beginn dieses Jahres [2009] sowie aus der damit verbundenen
leibhaftigen Begegnung mit der monumental-archaischen Kultur dieses Landes. Inhaltlich wird die ‚Ägyptische‘ von ‚dionysischer‘ Ekstase ebenso geprägt wie von ruhigeren ‚apollinischen‘ Passagen. Sich wellenförmig ausbreitende Farbklangschichtungen und die Majestät unendlicher Weiten des Klangraumes sollen dem Hörer das Eintauchen in imaginäre, urmythische, meist unbewusste tiefe Schichten unseres Seins ermöglichen – wie dies ja auch im jahrtausendealten ‚Ägyptischen Totenbuch‘ auf sprachmagische Art bereits anklingt.“

Tatsächlich sind in der Symphonie Hörmomente verarbeitet, die an archaische Gesellschaftsstrukturen und ebensolche Rituale erinnern. Vor allem immer wiederkehrende Passagen in den tiefen Bläsern und Streichern, unterfüttert vom gesamten restlichen Klangapparat, breit ausgewalzt, majestätisch und zugleich Furcht einflößend, lassen leicht Bilder der ägyptischen Totenstätten und auch der dazugehörigen Rituale aufkommen. Dennoch erfährt man in diesem Werk auch eine Unmittelbarkeit an österreichischer Musiktradition, die einen direkt zu Nitschs Orgien Mysterien Spielen beamen. Neben dem Symphonieorchester agierte die Musikkapelle Zellerndorf in großer Besetzung von unterschiedlichen Saalpositionen aus. Zu Beginn hatte sie Aufstellung im Bereich der Stehplätze genommen, dann wieder agierte sie vom Balkon aus. An anderer Stelle marschierte die Kapelle durch den Saal, inklusive Stabführer und Marketenderinnen. Auftritte der Blasmusik sind auch in Prinzendorf ein wesentlicher Bestandteil der Aktionen, im Musikverein verstärkte sich jedoch die Idee der gegensätzlichen musikalischen Positionen. Das zeugt einerseits von einer großen Portion Nitsch-Humor, andererseits liegt aber auch der Vergleich mit der historischen Aufführungspraxis der mehrchörigen Renaissancemusik Italiens auf der Hand, für die in den Kirchen einzelne Ensembleeinheiten an unterschiedlichen Raumpositionen verteilt wurden. So reizvoll der Geschichtsvergleich auch ist, sosehr kann aber auch der Vergleich mit der zeitgenössischen Musikpraxis in den Konzertsälen herangezogen werden, in welcher „Raummusik“ das Hörerlebnis auf eine andere Dimension schieben soll.

Hermann Nitsch Ferry Nielsen

Hermann Nitsch (Foto: Ferry Nielsen)

Nitsch selbst erklärte sein Werk als viersätzig:

  1. satz: gewaltige exposition
  2. satz: meditatives adagio
  3. satz: ein oft bis ins dämonische ausladendes scherzo
  4. satz: grossangelegtes, positives oder tragisches finale.

Neben den unterschiedlichen emotionalen Ausdruckswerten, welche diese Sätze kennzeichnen, ist es vielmehr ein besonders Stilmittel, das ihnen eigen ist und sich nicht an die Viersatz-Teilung hält. Immer wieder kommt es zu abrupten, zum Teil überhaupt nicht vorhersehbaren, im Fortissimo gespielten Abbrüchen, welche in das musikalische Geschehen brutal einschneiden. Einige dieser Tuschs sind vorhersehbar, andere kommen mit voller Wucht unerwartet und schrecken das Publikum hörbar auf. Neben dieser musikalischen Urgewalt gibt es noch ein zweites, markantes Hörerlebnis dieses Werkes. Es ist der Einsatz der Orgel, die gleich zu Beginn allein ein Intervall intoniert, bis andere Instrumente brachial und mit voller Wucht einsteigen und die Orgel übertönen. Immer wieder kommt jedoch im Laufe der Symphonie dieser Eingangs-Orgelton zwischen den Klangmassen zum Vorschein, sodass der Eindruck entsteht, die Musik würde sich entlang dieses musikalischen Fadens hanteln und sich daran festhalten.

Von Beginn an lösen sich zarte, melodische Ereignisse mit wuchtigen Klangballungen ab. Eine einfache Melodie, von der Piccolo-Flöte vorgetragen, mäandert anschließend durch das ganze Orchester, um dann, unerwartet, von der Blasmusikkapelle aufgenommen zu werden, die, am Saal-Ende positioniert, auf ihren Einsatz gewartet hat. Dieses kleine Motiv entpuppt sich als Wanderer, der immer wieder unerwartet anzutreffen ist. Manches Mal zerfällt es, manches Mal verschieben sich seine Klänge ins Dissonante, manches Mal beruhigt es die tobenden Klangwogen.

Ebenfalls markant gibt sich das Scherzo, in welchem das musikalische Material der Streicher und Bläser ausgelassen zu hüpfen und springen beginnt. Die beinahe kindliche Freude hält aber nicht lange an und wird von den Holzbläsern mit einer schrägen Melodie-Verfremdung in einen neuen emotionalen Zustand übergeführt. Ein stark rhythmisch gegliederter Teil, an dem das Percussion-Ensemble seine helle Freude hat, steht vor einer dunklen Klangballung.

Der letzte Satz, wie die vorhergegangen nicht durch eine Pause unterbrochen, wartet mit lang gezogenen Akkordflächen auf, die eine Art Schwebezustand hervorrufen. Ein Flirren und Wogen in den Bläsern und Streichern, ohne herausragende rhythmische Akzente, macht dies möglich. Mehrfach noch bäumt sich das Orchester auf, mehrfach noch fallen die Klangmassen in sich zusammen oder werden abrupt unterbrochen und mehrfach noch sind die archaischen Blecheinsätze mit tiefen Bässen gekoppelt, angsteinflößend. So ist es logisch, dass das Finale nicht anders als mit dramatisch eingesetzten Pauken ausfällt.

Die Kompositionsweise von Hermann Nitsch, der sich auf sein eigenes Notationssystem verließ, hält zu einem großen Teil neben visuellen Markierungen auch sprachliche Anweisungen bereit.  Diese unkonventionelle Notation erforderte jedoch eine weitere Bearbeitung für die Musizierenden, die von Peter Jan Marthé vorgenommen worden war, der neben Hahn einen großen Anteil am Gelingen des Konzertes hatte. Der große Reiz für das Orchester bestand sicher auch darin, dass gewisse Stellen improvisatorisch ausgelegt werden konnten, was bedeutete, dass die Musizierenden so dem Konzert ihren unverwechselbaren, eigenen Stempel mit aufdrücken durften.

Das Leben in seiner ganzen Vielfalt, von seiner kindlichen Ausgelassenheit bis zu seinem beängstigenden Ende und darüber hinaus – all das ist in der Neunten von Nitsch zu hören. Dass ihm zugleich auch ein logisch nachvollziehbarer Spagat zwischen Volksmusik und symphonischem Werk gelang, verleiht dem Werk einen eigenen Platz in der zeitgenössischen Musikproduktion.

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