Die Studentin Lejla kümmert sich um ihre psychisch kranke Mutter Azra. Milos ist dabei, ein Theaterstück über die rape-camps im Balkankrieg zu machen. Fabian hatte als Kriegsreporter einen Nervenzusammenbruch und möchte dennoch so schnell wie möglich wieder an die Front und der Rechtsanwalt Nachmann vertritt medienoptimiert eine syrische Bloggerin aus dem Untergrund. Dazwischen versucht der Palästinenser Osman mit der Israelin Jasmir eine Familienzusammenführung in Österreich. Und Jörg, ein Universitätsdozent, erkennt seine Machtlosigkeit angesichts nicht aufgearbeiteter Kriegstraumata.
Yael Ronen zeigt eine weitere Stückentwicklung im Volkstheater
Das ist er Ausgangsplot der „Stückentwicklung“ von Yael Ronen, die damit nach „Hakoah Wien“ sowie „Lost and found“ ihre enge Zusammenarbeit mit dem Volkstheater fortsetzt. Der Begriff Stückentwicklung ist bewusst gewählt, erarbeitete sie doch mit dem Ensemble gemeinsam den Abend, der spannend und humorvoll, letztlich aber auch zutiefst tragisch die Bruchlinien unserer Gesellschaft anhand von kriegerischen Auseinandersetzungen beleuchtet. In Österreich wurde „Niemandsland“ bereits in der Saison 2013/14 im Schauspielhaus Graz gezeigt.
Dabei ist es der gekonnte Einsatz von humorvollen Szenen, der die Tragik, die hinter den einzelnen Schicksalen steht, erträglich macht. Da präsentiert der Rechtsanwalt Lukas Nachmann (Julius Feldmeier) an einer Stelle sein blankes Gebiss dem Publikum. Da wimmert der junge Nachwuchsschauspieler Milos Dragovic (Sebastian Klein) herzerweichend, nachdem er sich bei einem Wutausbruch in seine Hand geschnitten hat. Da kommt Fabian (Jan Thümer höchst überzeugend) mit seinem angekotzten Anzug auf die Bühne und verbreitet sogleich Würgereflexe. All das und noch mehr sind Alltagsmomente, die Ronen gezielt fokussiert hervorhebt und dadurch einen humorigen Dreh schafft. Selbst Birgit Stöger, welche die tragische Figur der Azra darstellt, darf das Publikum in einer Szene herzlich zum Lachen bringen. Als sie dem Dozenten ihrer Tochter (Seyneb Saleh) erklärt „I tete Schedlinge“, und demonstrativ nach erfolgloser Kommunikation mit ihrem Fuß imaginäre Insekten am Boden zertritt, gibt auch sie ihrer Figur jene Komik, mit der Menschen auch in den tragischsten Situation ausgestattet sein können.
Tanz ist ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung
Gleich zu Beginn wird in einer extrem gefühlvollen Choreografie zu sanfter Musik eine Vergewaltigungsszene dargestellt, die sich wie in Watte gebettet anfühlt. Dass diese im Verlauf des Abends zum Dreh- und Angelpunkt eines Erzählstranges wird, kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen.
Das Spiel um die Auswirkungen von Gewalt, Krieg und nationalistischem Staatsgehabe, wird in kleinen, szenischen Happen präsentiert. Diese ergeben nach und nach, mit der Verzahnung einzelner Handlungsstränge, ein großes Ganzes. In ihnen wird klar, wie sehr die Menschen zu Spielbällen des jeweils herrschenden Gesellschaftssystems werden. Aber auch, wie sehr diese Systeme bis in die innersten Winkel ihrer Psyche eingreifen. Lejla ahnt, was ihrer Mutter im Krieg passiert ist und trägt dieses Leid unaufgearbeitet mit sich herum. Milos rebelliert, als er erfährt, dass sein Vater zu jenen Kriegsverbrechern gehörte, die er in seinem Theaterstück anprangert. „Ich will das nicht weitertragen, ich will, dass das mit mir aufhört“, ruft er zutiefst berührt seinen Schmerz und seine Angst ins Publikum.
Eine wahre Geschichte
Jasmin Avissar und Osama Zatar stehen im Stück mit ihrer eigenen Geschichte auf der Bühne. Dem Palästinenser und der Israelin ist es in den letzten Jahren gelungen, in Wien Fuß zu fassen und eine eigene Familie zu gründen. Einfach toll, wie der bildende Künstler und seine Ehefrau, eine ausgebildete Tänzerin, die wichtigsten Stationen ihres Lebens hier wiedergeben. Avissar ist auch für die Anfangs- und Schlusschoreografie verantwortlich, in der gezeigt wird, wie ein Mensch durch ein Trauma sein Leben lang leiden muss.
Rohnen erweist drei jüdischen Emigranten beeindruckend ihre Reverenz
In einem brillanten Kurzvortrag, in dem Knut Berger als Universitätsdozent seine Rolle als Politikwissenschaftler reflektiert, gelingt es Ronen sogar, auf drei jüdische Emigranten der Nazizeit hinzuweisen, die sich mit dem Thema von Kriegstraumata beschäftigten. Sie erweist damit Hans Keilson, Jean Améry und William Niederland, auch im Programmheft, die gebührende Ehre.
Das Bühnenbild (Fatima Sonntag), das sich über zwei Ebenen erstreckt und mit einer Stange ausgestattet ist, von der die Schauspielerinnen und Schauspieler im Handumdrehen die Etagen wechseln können, wird szenenweise nur partiell ausgeleuchtet. Immer wieder gelingt es, direkte Österreich-Bezüge herzustellen, sodass sich das Geschehen nicht nur zeitgeistig präsentiert, sondern auch so anfühlt. Die Pro-Refugee-Bewegung mit der Parole „say it loud, say it clear, refugees are welcome here“, findet genauso Platz wie das verzweifelte Ringen von Asylbewerbern, die sich einer Papierflut gegenübersehen, die schier unbewältigbar ist. Die Obergrenze für Flüchtlinge wird ebenso thematisiert wie die aktuelle Lage in Aleppo.
„Niemandsland“ ist ein Theaterabend, wie er idealerweise sein soll. Unterhaltend, tiefgründig, bedenkenswürdig, toll gespielt und mit einer exzellenten Regie ausgestattet. Mehr Lob geht wohl nicht mehr.
Informationen und Karten auf der Website des Volkstheater.