Naziterror und die Gerechten unter den Völkern
Von Michaela Preiner
Angelica war 12, als sie die Gestapo aus dem Gymnasium abholte, weil sie als Jüdin nicht weiter zur Schule gehen durfte. Nach einer Odyssee über Salzburg, das sie mit ihrer Familie Hals über Kopf verlassen musste, nahm sie der beherzte Pfarrer Johann Linsinger in Großarl mit ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihren Eltern auf. Er versorgte die Familie Bäumer mit neuen Papieren und beherbergte sie als „ausgebombte Wiener“ bis Kriegsende.
Reinhold Duschka und Johann Linsinger sind zwei Personen von insgesamt 112, die in Österreich den Titel „Gerechte der Erde“ tragen. Einen Titel, der vom israelischen Komitee der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an nicht jüdische Personen vergeben wird, wenn diese nachgewiesenermaßen jüdischstämmige Menschen während des 2. Weltkrieges vor dem Tod uneigennützig und unter Einsatz ihres eigenen Lebens retteten. Im Volkskundemuseum ist nur bis Ende März dieser Thematik eine Ausstellung mit dem Titel „Die Gerechten. Courage ist eine Frage der Entscheidung“ gewidmet.
In ihr werden nicht nur die Gerechten Österreichs aufgezeigt. Auch die übelsten Mörder, die dieses Land in der Nazidiktatur schalten und walten ließ, bekommen Gesicht und Namen. Bis man zu den Biographien der Gerechten gelangt, muss man erst ein Spalier dieser Nazischergen durchschreiten, kann dabei ihre Namen und ihre Funktionen lesen und erfährt, welche Verbrechen sie begingen.
Die Ausstellung beinhaltet auch kleine Objekte, Fotos und persönliche Andenken an jene, die sich mit ihrer Zivilcourage selbst in Lebensgefahr brachten. Sie fordert die Besuchenden aber auch auf, sich unter eine überdimensionale Polizeikappe zu stellen, in der schlagwortartig Gedanken und Wortfetzen aneinandergereiht wurden, die das „Innere eines Kopfes“ wiedergeben, in dem Recht gegen Unrecht imaginär einen Kampf austragen. Ein Propagandafilm, eine Aufnahme von Hitlers Fahrt durch Wien am 14. März 1938 und Plakate, an Litfaßsäulen montiert, geben die Stimmung wieder, die in jenen Jahren, politisch betrieben, das Volk vergiftete und die Menschen zu Mittätern werden ließ. Eine Reihe von Videofilmen lassen Zeitzeugen zu Wort kommen.
Eine besondere, gelungene Ausstellungsarchitektur zeigt von innen heraus hell erleuchtete Würfel in einem abgedunkelten Raum. Auf ihnen sind Fotos und Texte über jene Gerechten angebracht, die sich gegen das Gesetz stellten und ihre Überzeugung von Nächstenliebe tatsächlich lebten. Auf diese Weise treten diese Personen wie Lichtgestalten auf, die im wahrsten Sinne des Wortes hellstes, menschliches Licht in das Dunkel einer Zeit brachten, das durch seine grausamen Taten humanistisch unermesslich finster geworden war.
Um in den Kreis der Gerechten aufgenommen zu werden, müssen mehrere Zeugen eidesstattlich Auskunft über das Verhalten dieser Menschen ablegen, was bis heute schwierig ist. „Von über 20 Mitschülerinnen habe ich nur zwei animieren können, diese eidesstattlichen Erklärungen abzugeben“, erzählte die heute 86-jährige Angelica Bäumer bei einem Podiumsgespräch anlässlich der Ausstellungseröffnung . Das Zögern der anderen oder ihre glatte Ablehnung zeigen, wie tief auch heute noch die Ressentiments gegen die jüdische Bevölkerung angesiedelt ist oder wie sehr ein Sich-Bekennen mit der Angst vor einem sozialen Druck von Andersdenkenden abgelehnt wird.
„Wir brauchen auf unser Land nicht stolz sein“, O-Ton von Michael John, Kurator der Ausstellung. „112 Gerechte in ganz Österreich ist wirklich nicht viel. Die Mehrzahl davon kam aus Wien. Aus Linz und Graz ist überhaupt niemand dabei. Einige stammten aus kleineren Städten, manche auch vom Land.“ So unterschiedlich wie die geographische Verteilung ist, so unterschiedlich ist auch die soziale Struktur der Lebensretter und Lebensretterinnen. Von Intellektuellen bis hin zu Bauersfamilien, von Handwerkern bis hin zu Polizisten, von Schauspielerinnen bis hin zu Fabrikbesitzern spannt sich der Bogen.
Die Biografien der Gerechten aus Österreich sind darüber hinaus in einem überdimensional großen Folianten, der in der Ausstellung aufliegt, angeführt. Ein Teil dieser Personen wurde für ihre Hilfe verurteilt und noch während der Naziherrschaft ermordet. Wie tief die Trauer auch heute noch in ihren Familien verankert ist, zeigte eine kleine Geste eines Besuchers am Eröffnungsabend. Er legte seine Hand sanft auf das Foto eines Gerechten, der im Buch der Österreicherinnen und Österreicher verewigt wurde und hielt für einige Augenblicke in einem verinnerlichten Gedenken inne.
„Wer einem Menschen das Leben rettet, rettet die ganze Welt“ ist im Eingangstext zur Ausstellung zu lesen. Es ist jener Talmudspruch, der im Ring eingraviert wurde, den Oskar Schindler von den Juden erhalten hatte, die den Nazihorror überlebt hatten.
Um Leben zu retten, braucht es aber Courage. Eine Courage, von der wir Nachgeborenen nicht wissen, ob wir sie zu jener Zeit tatsächlich aufgebracht hätten. Was wir aber machen können, ist, heute gegen jene Ungerechtigkeiten anzukämpfen, die seitens der Gesellschaft und der Politik rund um uns tagtäglich geschehen. Auf die Frage, was denn die heute 86-jährige Angelica Bäumer an ihre Mitmenschen von ihrer Erfahrung weitergeben möchte, antwortete sie ohne zu zögern: „Helfen Sie den jungen, männlichen Flüchtlingen, die ihr Land ohne ihre Familien verlassen mussten. Unterstützen sie jene Familien, die alles zurücklassen mussten und nun, ihrer Sprache beraubt, in einem fremden Land wohnen, in dem sie auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen sind.“
Es ist eine Mahnung, die beschämt. Denn eine Gesellschaft wie unsere, die in einem Land lebt, welches 2017 im Ranking der reichsten Länder der Welt Platz 16 einnahm und dessen politische Führung vehement darauf drängt, die Integration in den Schulen zurückzufahren, Flüchtlinge „konzentriert“ zusammenzufassen und ihnen die Mindestsicherung zu kürzen, ist auf dem besten Weg, sich in eine Richtung zu entwickeln, in der Widerstand gegen die Mächtigen und das Eintreten für die Schwächsten der Schwachen wieder zur Courage mutiert.
Die Ausstellung „Die Gerechten. Courage ist eine Frage der Entscheidung“ läuft nur bis inklusive 31.3. Das Volkskundemuseum hat in dieser Zeit seine Öffnungszeiten verlängert und bietet allen Besuchenden zu dieser Ausstellung einen Gratis-Eintritt an. Ein umfangreiches Vermittlungsprogramm für Schulklassen und Gruppen, sowie öffentliche Führungen ergänzen die Ausstellung.