Für Theaterfreaks und solche, die es werden wollen
12. November 2023
NATURAL.BORN.MEDEA nennt sich das neueste Mash-up im Off-Theater von Ernst Kurt Weigel. Für Lese- und Theatermuffel, die mit Literatur nichts am Hut haben, ist es genauso geeignet wie für Cineasten, aber auch Theaterfreaks, die Grillparzer in- und auswendig kennen.
Michaela Preiner
Theater
NATURAL.BORN.MEDEA (Foto: Babara Pálffy)
Foto: (Babara Pálffy)

Er hat ihn sicher gestohlen. Den blauen spitzen Hut mit den goldenen Sternen und der Mondsichel. Den Magier-Hut aus Walt Disneys „The sorcerer‘s apprentice“. Denn mit diesem ist es ein Leichtes zu zaubern, was einem in den Sinn kommt. Ernst Kurt Weigel muss ihn besitzen, jenen Hut, der dem Zauberlehrling viel Ungemach brachte, seinem Meister aber den uneingeschränkten Status des wahren Könners.

Man kann sich bestens vorstellen, wie der Theatermacher, mit dem Hut auf dem Kopfe, seine Mash-up-Ideen in einen großen, dampfenden Kessel wirft, das Gebräu kundig umrührt und es schließlich an sein Ensemble verteilt, auf dass es selbst erleuchtet würde vom Geist des Dramas und auch jenem des Filmes. Jeweils eine große Suppenschüssel davon bekommen auch all jene, die sich um Kostüm und Sound bemühen, denn schließlich muss alles aus einem Guss sein.

Und wahrlich, es ist ein Guss geworden – und was für einer! Oder exakter ausgedrückt: Es ist eine Melange geworden – Mash-up klingt wahrlich zu unfein, für das, was im Kessel des Off-Theaters gebraut wurde: Natural.Born.Medea nennt sich die schmackhafte Mixtur. In ihr vermischen sich zwei grauenvolle Geschichten zu einer Erzählung, deren tragische Hintergründe sich in Witz und Tollerei verwandeln, sodass einem ganz schwindelig davon werden könnte. So, wie sich die beiden Erzählungen vermengen, so tun es auch ihre Protagonistinnen und Protagonisten. Verschmelzen zum Teil in ein und dieselbe Person, um sich bald darauf mit Leichtigkeit von ihr wieder zu trennen. Franz Grillparzers „Medea“ trifft ihren „Jason“, der durch den Zaubertrank seinen Vornamen selbstverständlich englisch ausspricht. „Tscheison“ heißt er, wird aber von „Mae“ alsbald als „Jay“ gerufen. Genauso wie ihre Zwillinge im Geiste „Mickey“ und „Mallory“, vom Regisseur Oliver Stone einst auf die Leinwand gezaubert, fühlen sie sich von Beginn an zueinander hingezogen. Die Lust, ihr verkorkstes Leben via Social-Media-Kanäle millionenfach unter ihren Bewunderern zu verbreiten, ist ein weiteres Schmiermittel ihrer Beziehung.

medea bernhard ensemble juniku jaslikowski foto guenter macho

NATURAL.BORN.MEDEA (Foto: Günter Macho)

Ganz dem mordenden Filmduo verpflichtet, ziehen die beiden bald eine blutige Spur über die Bühne, mit gewaltigen Licht- und Soundbegleitungen und ballern auf alles, was sich in ihrer Umgebung bewegt. Vater und Mutter, die am Beginn der Entsorgungsorgie stehen, haben es aber in sich. Denn obwohl dahin gemetzelt, wird Mallory-Medea von ihnen nie loskommen. Zum Glück gibt es da auch noch einen Gefängnisdirektor. Einen, der sich stets als Humanisten rühmt und in jedem und jeder nicht das Monster, sondern rein den Menschen erblicken möchte. Einen, der besessen ist von der Idee, im Maßnahmenvollzug mithilfe des Theaters die Menschheit von ihrem bösen Tun erlösen zu können. In seinen Hallen treffen alle aufeinander. Medea und Jason, Mickey und Mallory, Medeas Mutter und Vater sowie ihre Amme Gora. Logischerweise versammelt sich dort auch die Gegenseite in Gestalt der Tochter des Anstaltsleiters alias Kreusa und deren Mutter, zuständig für die Urlaubsbuchungen der Familie für die Silvesterparty im Ausland. Dass ihr werter Gemahl nicht weiß, wann das in diesem Jahr stattfindet, zeugt von seinem glasklaren Geisteszustand, der sich von jenem seiner Schützlinge nicht wesentlich unterscheidet.

Tollkühn stürzen sich alle, die man zu Beginn in einem Narrenhaus wähnte, in die Erzähl-Schlacht, angetrieben von der Idee, im Sauseschritt Stones und Grillparzers Dramen dem zeitwunden Publikum auf Wienerisch näherzubringen. Obwohl: So ganz Wienerisch dann auch wieder nicht, denn schließlich mutiert das Wigwam, in welches sich das Gangsterduo nach dem Genuss von halluzinogenen Schwammerln und Ebbe im Benzintank ihres Autos flüchtete, zu einem steirischen Unterschlupf. Die weibliche Eingeborene fährt darin einen oststeirischen Dialekt auf, dass einem warm ums Herz wird.

Wie nebenbei wird das goldene Vlies ohne vorherige Bestellung per Lieferando-Essensboten geliefert, von Medea klugerweise der direkten Blickrichtung aller wieder entzogen, schlussendlich aber, wie es ihm gebührt, todbringend wieder eingesetzt. Der Zauberer mit dem blauen Hut lässt nichts aus, aber schon gar nichts. Weder die Schlangenszene aus „Natural born killer“, noch die Annäherung von Kreusa an Medea in Gestalt der Seelsorgerin und Tochter des Gefängnisdirektors. Ein wilder Ritt durch die literarische Genealogie des goldenen Lammfelles inklusive Heiligem Gral und Harry-Potter-Verweis wird genauso geboten wie die unheilvolle Gesangsszene, an welcher Medea im Beisein ihrer Rivalin und ihres Gatten herzzerreißend scheitert. Franz Schuberts Ständchen „Leise flehen meine Lieder“ aus seinem Schwanengesang, seinem letzten großen Zyklus, den er vor seinem Tod verfasste, fügt sich nicht nur passend in das wienerische Kolorit. Es antizipiert als letzte große musikalische Tat dieses tragischen Genies auch gleich das letale Ende einiger Charaktere subkutan mit.

Mit welch hoher literarischer Qualität der Zaubertrank ausgestattet ist, darf am parallelen Einsatz der natürlich wirkenden Mischung von Grillparzers Dramensprache und zeitgeistigem Slang unterschiedlichster Gesellschaftsschichten erkannt werden. „Leck Fettn ihr seids vull nebn die Schua“ und „kommt her zu mir, ihr heimatlosen Waisen, wie frühe ruht das Unglück schon auf euch“ stehen nicht in beißendem Widerspruch zueinander, sondern amalgamieren in einem geistig-literarischen Cocktail auf wundersame Art und Weise.

Zauberei mag wohl auch im Spiel sein, wenn sich Medea, das benutzte, das weggeworfene, das schambehaftete, gefürchtete und doch weitsichtigste Wesen von allen, ganz ihrem Verlassenheits-Schmerz ausliefert und unter grauenhaftem Geschrei ihre Kinder mordet. Denn mit einem Mal ist alles weg, was gerade noch fröhlich und unsinnig war. Ganz so in Rauch aufgelöst, wie der Dampf über dem Kessel des Disney-Magiers. Der grelle und schrille Theater-Trank kippt mit einer Umdrehung in die entgegengesetzte Richtung wie vergoren in die schwärzeste Brühe, so ungenießbar, dass sie bitter im Hals stecken bleibt.

NATURAL.BORN.MEDEA

NATURAL.BORN.MEDEA (Foto: Günter Macho)

Der fleischfressende, angsteinflößende Hase, der das Publikum schon beim Eintritt irritierend verfolgte und ein ständiger Begleiter Jasons ist, mag als Vorbilder Monty Python, Alice im Wunderland oder aber die Killer-Hasen-Marginalien mittelalterlicher Handschriften anführen. Die Etymologie seines alternativ gebrauchten Wortes Kaninchen stammt aus dem Lateinischen cuniculus, was übersetzt „unterirdischer Gang“ bedeutet. Auf die wilde Schar an Charakteren von Natural.Born.Medea angewandt, könnte man salopp mit dem Strafvollzugs-Direktor argumentieren, dass „das Böse halt im Gehirn drin ist“ oder die Karnickel-Metapher auch anders ausdrücken: In den Tiefen des Unterbewussten lauert das Unheil.

Rina Juniku, Andrzej Jáslikowski, Jula Zangger, Kajetan Dick, Anja Štruc, Matthias Böhm, Yvonne Brandstetter auf der Bühne, Leonie Wahl als Choreografin, b.fleischmann als Soundakrobat, sowie Julia Trybula, welche den Charakteren ihr markantes Aussehen verpasste und die Ausstattung besorgte – sie alle gehören x-fach beklatscht vor den nicht vorhandenen Vorhang.

Mögen die kommenden Vorstellungen all jene anlocken, die theaterbesessen sind, aber auch all jene, die noch nie im Theater waren. Für beide Gruppen garantiert das.bernhard.ensemble einen unvergesslichen Abend. Fürchten muss sich niemand, außer davor, dass der theatrale Zauber Suchtcharakter haben kann, besitzt doch EKW mit Bestimmtheit einen blauen spitzen Hut mit goldenen Sternen und einer Mondsichel darauf.

Pin It on Pinterest