Wer von uns, egal, wie alt wir auch immer sind, kennt nicht jene Alltagssituationen, in welchen wir mit unseren Familienangehörigen am Tisch sitzen und reden, ohne etwas zu sagen?
Als Kinder haben sich unsere Eltern – so wir Glück hatten – bemüht, uns in einer geschützten Umgebung aufwachsen zu lassen. Oft unter Zeitdruck, mit Alltagsarbeiten bis über beide Ohren beschäftigt. Zeit zum Reden, bis auf das, was im Alltag notwendig war, blieb selten. Auch standen die eigenen Befindlichkeiten zu sehr im Vordergrund, um sich intensiver auf das einzulassen, was hinter dem Handeln unserer nächsten Angehörigen steckt. Die Verletzungen, die ihnen von den Generationen davor mitgegeben wurden, bleiben oft im Dunkeln und werden nicht erzählt.
Irgendwann waren wir aus der Familie herausgewachsen und unsere Eltern gealtert. Selbst einmal Alt geworden kommt die Einsicht, dass wir vieles von Vater und Mutter nicht wissen, aus dem einfachen Grund, weil wir nie nachgefragt haben. Und – auch kein leichtes Erkennen – unser Verhalten den eigenen Kindern gegenüber verblüffend jenem ähnelt, welches wir selbst an unseren Erziehungsberechtigten nicht guthießen.
Dies könnte man als den Nukleus des Stückes „Mother loves you“ bezeichnen. „TWOF2 + dascollectiv“ – Giovanni Jussi und Maria Spanringaus aus Wien zeichnen dafür verantwortlich. Gezeigt wird es mit der Altersempfehlung 15–20 Jahre im Dschungel in einem nicht alltäglichen Setting. Rund um einen Küchentisch, flankiert von einem Kühlschrank und einem Ofen, bereitet sich eine junge Frau Frühstück zu. „Ich bin Ada“, stellt sie sich dem Publikum kurz vor. Es wird einer von drei Sätzen sein, die sie während des Stückes live spricht. Im Raum verteilt finden sich einige Bildschirme, auf welchen kurze Szenen, aufgenommen in einer Küche, zu sehen und hören sind. (Bühne Giovanni Jussi, Francesco Diaz)
Abermals ist es Ada, nun ca. 20 Jahre älter, mit ihrem halbwüchsigen Sohn Raphael, die in der ersten Video-Szene am Küchentisch sitzt. Es ist wider Erwarten Raphael, der sich um seine Mutter kümmert, die sich offenkundig in einer Lebenskrise befindet. In der nächsten Einstellung ist Ada als junge Mutter mit ihrem damaligen Partner in einer Küchenszene zu beobachten. Beide am Arbeiten, er am Laptop, sie an der Schreibmaschine, die nach kurzer Zeit aber ihren Geist aufgibt. Die Bitte, an seinem Computer weiterarbeiten zu können, wird von ihm mit der lapidaren Aussage abgeschmettert „Nein, das ist zu hoch für dich“. Damit ist klar, warum dieser Beziehung keine lange Dauer vorhergesagt werden kann und Ada auch in den späteren szenischen Abfolgen unverheiratet ist.
In den filmischen Einspielungen werden Ada und ihr Sohn Raphael in unterschiedlichen Lebensaltern gezeigt und dies auch nicht zeitlinear. Auf einen Blick in die Mitte von Adas Leben folgt eine Rückschau. Die Rollen, die Eltern und Kindern zugeschrieben werden, sind in den Szenen oftmals vertauscht. Fürsorgend der Sohn, aufmüpfig die Mutter. In der allerletzten Einstellung ist Raphael als alter Mann zu sehen.
Es dauert ein Weilchen, bis man die Familienverhältnisse zu verstehen beginnt, die wichtigste Konstellation jedoch – Mutter und Sohn – ist von Beginn an klar und bleibt es auch bis zum Schluss. Kurze Dialoge verdeutlichen, dass das Verhältnis der beiden nicht friktionsfrei ist, sie aber dennoch bemüht sind, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. Der unterlegte Sound ballt sich, wenn beide nicht mehr miteinander sprechen, zu einer akustisch wahrnehmbaren Bedrohung zusammen (Musik Bernhard Breuer). Wie selbstverständlich wird damit das Gefühl vermittelt, dass die Gefahr dort beginnt, wo das Reden miteinander aufhört.
Es sind die Zeitsprünge, aber auch die dadurch ausgelösten Irritationen, welche das Geschehen von den Protagonisten loslösen und bald als universell verstanden werden können. Das, was Raphael und seine Mutter verbindet, die Art, wie sie miteinander kommunizieren, sich aneinander reiben und sich dennoch immer das Beste wünschen, steht für viele Mutter-Kind-Beziehungen.
In einer der letzten filmischen Szenen sitzt der gealterte Raphael einer jungen Frau gegenüber, die Ada sein könnte. Man darf sich zusammenreimen, dass es seine jüngere Schwester ist, genauso gut könnte es aber seine Mutter sein, die er sich imaginiert. Der Kreis des Lebens schließt sich in dieser Einstellung. Aus Jung ist Alt geworden, aber die Jungen kommen nach und auch ihnen steht das Altern bevor.
Die Lebensgeschichte der beiden bleibt zum größten Teil verborgen, aber es ist auch nicht notwendig, mehr von ihnen zu erfahren, denn: Anna Katharina Bittermann, Dominik Gysin, Maria Spanring und Joshua Zischg, welche die Protagonistinnen und Protagonisten verkörpern, konzentrieren sich in ihren Dialogen (Buch Ursula Knoll) nur auf jeweils aktuelle Zustände, aus welchen man seine eigenen Rückschlüsse ziehen kann. Verstärkt wird dadurch die Gefühlsebene zwischen Ada und Raphael, in die man gut eintauchen kann.
Was während der Aufführung rätselhaft oder im Verborgenen bleibt, erfährt eine radikale Wendung am Schluss des Stückes. Da fällt der einschneidende und unvergessliche Satz: „Warum hast du nicht gefragt?“ Eine Frage, die an Raphael gestellt wird und die schließlich als Trigger funktioniert. Denn die Frage, das versteht man in der Sekunde, ist nicht nur an den Schauspieler im Video gestellt, sondern an alle, die zusehen.
Aufgrund des Erlebten weiß man auch ad hoc, was man selbst tun sollte, bevor es zu spät ist: Fragen und reden, auf den anderen oder die andere zugehen, um ihre Persönlichkeit besser zu verstehen. Auf Vater, Mutter, Schwester, Bruder, auf Freundin oder Freund – schlichtweg auf alle, mit denen man scheinbar vertraut ist, letztlich aber nie in die Tiefe der Persönlichkeit, ihre Wünsche und Ängste, abgetaucht ist. Man sollte die Frage aber auch stellen, um Klarheit zu bekommen, wer man selbst ist und warum man so geworden ist, wie man letztlich ist.
„Mother loves you“ ist eine geglückte, theatrale Versuchsanordnung mit einer gehörigen Portion praktizierte Lebensweisheit. Es bleibt zu hoffen, dass diese von Publikum auch dementsprechend aufgenommen wird.