Medardo Rosso ist einer jener Künstler, der große Auswirkungen auf die Kunst des 20. Jahrhunderts hatte, jedoch von der kunstinteressierten Allgemeinheit bis heute meist unter dem Radar läuft. Geboren 1858 in Turin, gestorben 1928 in Mailand, war er nicht nur ein Individualist, was den Umgang mit Materialien betraf. Auch seine politische Meinung als „europäischer Anarchist“, dem Nationalstaaten ein Gräuel waren, war nicht gerade maingestreamt.
Nichtsdestotrotz oder besser gesagt, gerade deshalb, ist sein Werk außerordentlich und kann, was seine Ausstrahlung betrifft, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Im mumok sind insgesamt ca. 50 Plastiken, sowie ca. 250 Fotografien, Collagen und Zeichnungen in einer umfassenden Werkschau von ihm zu sehen. Im Erdgeschoß darf man zuallererst aber in einen Teil seiner Fotografien Einblick nehmen, die seine Arbeiten stets begleiteten. Dabei fällt auf, dass viele von ihnen beschnitten sind, kein Normmaß aufweisen und die Plastiken von Rosso nicht nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen. Es ist vor allem die unterschiedliche Beleuchtung, welche die einzelnen Arbeiten im wahrsten Sinn des Wortes in verschiedenem Licht zeigen. Sie erhalten dadurch immer wieder neue Wahrnehmungsaspekte, ein Umstand, den Rosso beabsichtigte und der ihn offenbar auch faszinierte. Bei der Betrachtung der Vitrinen, in welchen die Fotos lichtgeschützt zu sehen sind, ist eine gewisse Obsession unverkennbar. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Fotografie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch etwas war, was nicht jedem und jeder zugängig war: Zu teuer war eine Kamera, zu kompliziert das Entwicklungsverfahren, das man selbst durchführen musste, unerschwinglich die Kosten für die Materialien.
Einige Motive wurden vielfach von Rosso fotografiert, darunter ‚Ruffiana‘ oder auch das feine Jungen-Gesichtchen ‚Ecce puer‘. Letzteres evoziert bei vielen Betrachtenden ad hoc Beschützerinstinkte, ein Indiz, dass die Arbeit mit einer hohen, dennoch aber subtilen emotionalen Ausdruckskraft ausgestattet ist. Bei der vollplastischen Ausführung der ‚Ruffiana‘, zu Deutsch ‚Kupplerin‘ werden automatisch Bezüge zu den Charakterköpfen von Franz Xaver Messerschmidt virulent. Der geöffnete Mund, bei Portraits lange Zeit ein absolutes No-go, sowie die Hervorhebung eines bestimmten affekthaften Zustandes überlappen sich hier mit Messerschmidts Ideen. Tatsächlich beeindrucken alle Werke von Rosso auch auf den Fotos durch ihre Lebendigkeit, die man wenige Schritte weiter, im zweiten Teil des großen Saales, direkt am plastischen Objekt betrachten kann.
![Medardo Rosso und seine Nachfolger 1 european cultural news.com medardo rosso und seine nachfolger Medardo rosso ruffiana bronzo](https://i0.wp.com/european-cultural-news.com/wp-content/uploads/2025/02/european-cultural-news.com-medardo-rosso-und-seine-nachfolger-Medardo-rosso-ruffiana-bronzo.jpg?resize=450%2C805&ssl=1)
Sailko, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons
In diesem, von einem durchsichtigen Vorhang abgeteilten Raum, wurden seine Plastiken auf Sockel gestellt, viele von ihnen ohne Glasschutz. Dabei fällt auf, dass die meisten von ihnen nicht vollplastisch ausgearbeitet wurden. Ihre Rückseite ist unbehandelt, Armierungen bleiben sichtbar und der Werkstoff, aus dem die Plastiken geschaffen wurden, tritt hier besonders in den Vordergrund.
Ob Gips oder Wachs, beide Materialien waren und sind bis heute für viele Kunstschaffende noch Zwischenstadien auf dem Weg zu fertigen Plastiken. Für Medardo Rosso jedoch waren sie Hauptträger seiner Ideen. Das Unfertige, aber auch der Gattungsbegriff des Bozzettos, des Entwurfes, können benannt werden, wenn es um die Charakterisierung seiner Arbeiten geht. Und tatsächlich vermitteln diese immer das Gefühl, aus dem Moment heraus entstanden zu sein, mit der Absicht, dieses ständig sich wandelnde Momenthafte dennoch festzuhalten.
Dazu kommt, dass Wachs, mit dem Rosso arbeitete, ein Material ist, das eine beinahe fleischliche Qualität aufweist. Es lässt sich nicht nur leicht formen, sondern alle Dellen, Vertiefungen und Erhöhungen lassen sich sinnlich nachspüren, ohne dass man die Plastiken berühren muss. Nichts, was der Künstler schuf, hatte den Anspruch von Monumentalität oder Ewigkeit, wenngleich das, was in Wien zu sehen ist, dennoch einen Ewigkeitsanspruch in der westlichen Kunstgeschichte erheben darf.
Medardo Rosso entschied sich bewusst, sogenannte „arme“ Materialien zu verwenden. Er wollte einen Gegenpol zu jenen Werken schaffen, die in Bronze gegossen, letztlich erstarren und nur mit Mühe für lebendig gehalten werden können.
Besonders bemerkenswert sind eine Reihe kleiner Bleistiftskizzen des Künstlers im 2. Stockwerk, in welchem die Ausstellung ihre Fortsetzung findet. Zum Teil an der Kippe zur Abstraktion, zum Teil aber gut lesbar, sind sie wahre Schätze des rasch Hingeworfenen, augenblicklich Festgehaltenen. Die hohe künstlerische Qualität rührt nicht allein vom flüchtigen Moment, in welchem sie entstanden, sondern auch aus der Sicherheit der Strichführung, der Beherrschung von Licht und Dunkelwiedergabe und der Konzentrierung auf das jeweilige Motiv. Ob elegante Damen, Männer im Park oder ein Pferd, eingespannt in ein Fuhrwerk – immer zeichnet Rosso strichsicher in kleinem Format, so als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als dem Augenblick einen visuellen Ausschnitt zu entreißen, um diesen festzuhalten.
Neben diesem Zeichenkabinett ergänzen 50 zeitgenössische Arbeiten und solche aus dem vorigen Jahrhundert die Schau. Dabei sind große Namen wie Francis Bacon, Louise Bourgeois oder Edgar Degas ebenso vertreten, wie solche, die meist nur Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern bekannt sind. Die Auswahl wurde angesichts der verwendeten Materialien getroffen – Wachs ist häufig ein Thema. Aber auch die Momentaufnahme und der Bezug zu einer starken Körperlichkeit sind bei vielen Werken zu erkennen. Obwohl die Auswahl großzügig gestaltet und auch gut in Szene gesetzt wurde, sind es doch die Arbeiten von Medardo Rosso selbst, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Noch zu sehen bis 23. Februar 2025.
Ein ausführlicher Katalog mit vielen Abbildungen begleitet die Ausstellung, die vom 29. März bis 10. August 2025 ins Kunstmuseum Basel weiterwandert.