Marc Albrecht denkt in ganzen Sätzen

Brahms und Bruckner vom Feinsten in Straßburg

Mit dem Violinkonzert von Brahms op. 77 und der 7. Symphonie von Bruckner erlebte das Straßburger Publikum am 8. Mai 2009 einen Konzertabend der Spitzenklasse

Zu verdanken ist dies der unglaublichen Leistung von Viktoria Mullova, jener inzwischen zu Recht international begehrten russischen Violinistin, die das anspruchsvolle Stück so gestaltete, als ob es nicht die geringste Herausforderung für sie darstellen würde. Zu verdanken ist dieser Ausnahmeabend dem sie feinfühligst begleitenden Orchester, gegen das sie niemals anspielen musste. Zu verdanken ist dieser Abend aber vor allem einem – dem Chefdirigenten des Philharmonischen Orchesters in Straßburg – Marc Albrecht.

Brahms Violinkonzert, welches am Beginn des Konzertabends stand, erlaubte es der Solistin, nicht zuletzt dank der aufmerksamen Taktführung Marc Albrechts, scheinbar mühelos alle Register zu ziehen, die eine Geigenvirtuosin nur ziehen kann. Gleich eingangs erklangen die schnarrenden Doppelgriffe in den expressiven Solopassagen ebenso sicher und vollmundig, wie später die feinen, lyrischen Melodielinien in den hohen Lagen. Dass Mullova auch das Glück hat, ein ganz besonderes Instrument zu spielen – sie bringt keine geringere Geige als eine Stradivarius von 1723 zum Erklingen – bedeutet für das Publikum zusätzlichen, höchsten Hörgenuss. Als gefährlich gilt Brahms Violinkonzert nicht nur wegen seines technischen Anspruchs, sondern vor allem auch, weil es ganz nebenbei noch von der Solistin oder dem Solisten ein hohes Maß an Einfühlung in den orchestralen Klangkörper erfordert. Viktoria Mullova, die dieses Werk in diesem Jahr bereits in Brüssel und Rotterdam spielte und im Laufe des Jahres noch in London und Sydney interpretieren wird, fand in Marc Albrecht sicherlich einen idealen Dirigenten, der sich dieser Schwierigkeit meisterlich stellte. Ganz klar leitete er das Orchester so, dass die Solistin ein Klanggerüst vorfand, ist das sie sich mit Leichtigkeit einordnen konnte und das sie wiederum, in den erforderlichen Passagen, unterstützte. Obgleich der zweite Satz mit seinem ohrenschmeichelnden Thema, das zu Beginn die Oboe vorsingt, meist als Höhepunkt des Konzertes angesehen wird, schafften die Musiker im Finalsatz noch eine Steigerung. Albrecht ließ gleich zu Beginn des dritten Satzes seine Geiger so jubilieren, tanzen und springen und die Celli nicht weniger begeistert antworten, dass es eine helle Freude war. Dieses Konzept, das jedoch die Solistin nie übertrumpfte, zog er bis zum Schluss so überzeugend durch, dass der herausragenden Virtuosin Viktoria Mullova ein ebenbürtiges, ebenso herausragendes Orchester zur Seite gestellt wurde. Damit wurden der Dirigent, die Solistin und das Orchester Brahms in ganz besonderer Weise gerecht. Sie gaben das Violinkonzert als ein Stück Musik wieder, welches die Zuhörer fesselte und Staunen machte, welches passagenweise zum innerlichen Mitsingen verleitete und dann wiederum spontan Bilder evozierte, die höchste Lebensfreude weckten.
Was im ersten Teil des Konzertes als Ankündigung von Albrechts intelligenter und individueller Orchesterführung verstanden werden konnte, das führte dieser mit Bruckners 7. Symphonie tatsächlich zur Perfektion. Die Art, wie er sich dieses Stückes annahm, muss als beispielgebend gewürdigt werden. Seine Idee, jeden einzelnen Satz für sich als eigenes Klangkunstwerk stehen zu lassen und als solches individuell zu interpretieren, ist grandios; um dies literarischer auszudrücken: Albrecht „dachte“ in ganzen Sätzen. Exzellent war dies auch, weil er mit der Wiedergabe des Finales einen wunderbaren Schluss zauberte, der kunstvollst an die Interpretation des ersten Satzes anknüpfte und somit zeigte, dass das „Denken in ganzen Sätzen“ sich schlussendlich auch als Durchdenken der gesamten Symphonie erwies. Klar und durchsichtig ließ er gleich zu Beginn der Symphonie die einzelnen, melodischen Bögen – wie in ideal abgestimmten Staffettenläufen – von einer Instrumentengruppe an die nächste übergeben. Ganz konträr dazu ertönten der Klangteppich oder besser – die zu Klang gewordenen Emotionen – des zweiten Satzes, in welchem Bruckner seiner Trauer über den Tod Richard Wagners Ausdruck verlieh. Langsam an- und abschwellende Wogen, die das gesamte Orchester erfassten, ohne jede Effekthascherei, ohne Einsatz von Becken und Triangeln – und wahrscheinlich gerade deswegen so atemberaubend – gaben den Zuhörerinnen und Zuhörern die Möglichkeit, sich tragen zu lassen. Sich tragen zu lassen, auf breiten Wellen eines unendlich scheinenden Trauermeeres, auf dem dennoch Hoffnungsschimmer glänzten und welches schließlich in einem überirdischen Bläserwohlklang, gehalten bis in die letzte Atemsekunde, endete. Albrechts außerordentliche Leistung in seiner Werkinterpretation zeigte sich auch in den sparsamst eingesetzten Akzentuierungen der Dynamik. Er vermied den Fehler vieler namhafter Dirigenten, Bruckner mit einer durchgehenden Theatralik spielen zu lassen, die dem Publikum jedwede Differenzierung der einzelnen musikalischen Gedanken verbietet. Am deutlichsten wurde seine Intention, genau das Gegenteil zu erreichen, wohl im Finale. Die verlängerten Atempausen, die er nach den Bläsereinsätzen mehrfach jeweils einfügte, waren nicht nur ein Mittel zum Spannungsaufbau. Vielmehr hörte man, was man zuvor in diesem Werk so noch nie gehört hatte, eine Symphonie im ursprünglichsten, griechischen Wortsinn: nämlich den wohltönenden „Zusammen-Klang“ von Instrumenten – bis hin zu ihrem, letzen, möglichen, noch hörbaren Moment. Er reizte die Stille, die er den Bläsern folgen ließ, bis zu jener Hundertstelsekunde aus, in welcher eine musikalische Fortführung einsetzen musste, um sich nicht in eine Manieriertheit zu begeben. Ganz im Gegenteil klang diese Interpretation so, als sei sie natürlicher als natürlich und die einzig gültige. In diesen Momenten schien es, als ob Bruckner Albrecht zuflüstern würde: „Höre, höre, höre die Schönheit“ und bei Gott, Albrecht hat sie vernommen!

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