Männliche Pathologien

Die amerikanische Schriftstellerin Emily Dickinson war eine höchst eigenwillige Person. Oder wurde sie durch den Blick der anderen erst zu einer solchen gemacht? Ist es verboten, sich dem „Außen“ zu entziehen und ein Leben lang im „Innen“ zu verharren, ohne dabei als verrückt oder krank attribuiert zu werden? Wie geht ein Mensch mit seinen vier Wänden um, die sein ganzes Universum sind?

Thiemo Strutzenberger, einer der Ensemblemitglieder des Schauspielhauses in Wien, der in den letzten Saisonen vielen Aufführungen seinen unverkennbaren schauspielerischen Stempel aufdrückte, hat mit „Queen Recluse“ einen Text geschaffen, der Emily Dickinson zwar vordergründig in den Mittelpunkt des Geschehens setzt. Tatsächlich aber will der Autor, wie er in einem Gespräch nach einer Aufführung dem Publikum erklärte, nicht das Leben von Emily Dickinson nachzeichnen. „Ich will auf keinen Fall sagen: Seht her, das ist Emily Dickinson“, so O-Ton Strutzenberger. Vielmehr hat ihn der Umstand der Verortung in jenen Räumen interessiert, die Dickinson bis zu ihrem Tod über viele Jahrzehnte hin nicht verlassen hat. Bei seinen Gender-Studies kam er auf einen Essay von Diana Fuss mit dem Titel „Interior Chambers“, in dem diese das Schreiben der Autorin in direkten Zusammenhang mit der Materialität ihres Wohnens setzte. Strutzenberger wollte davon ausgehend ein radikal anderes Dickinson-Bild zeichnen als jenes, das unter dem bisher männlichen Blickwinkel pathologisiert worden war. Dass es dabei nicht um Authentizität gehen kann, ist einleuchtend.

Dabei verwendet er nur wenige Dickinson-Zitate – einige Sätze, die aus ihrer Korrespondenz stammen. Daneben versucht er, seine Figuren sprachlich so neutral wie möglich zu erfassen und ihnen Texte in den Mund zu legen, die mehr Fragen eröffnen als Antworten geben. Emily wird dabei von Barbara Horvath als eine feinfühlige Frau charakterisiert, die erstaunlicherweise in ihrer komplexen Ideenwelt eine Partnerin findet, die es ihr ermöglicht, Gedanken auf gleicher intellektueller Ebene auszutauschen. Ganz unvermutet und öfter als einmal stampft Horvath an diesem Abend mit aller Wucht auf den erhöht gebauten Bretterboden, der nicht die Welt, aber zumindest ein puritanisches Heim in Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs bedeutet, und verleiht durch diese Zornesgesten der Autorin bisher „ungedachte“ Charakterzüge. Myriam Schröder als Geliebte Susan Gilbert hält der Schauspielwucht Horvaths bravourös Stand und versucht die Abkapselung der Schriftstellerin nicht nur zu hinterfragen, sondern auch schönzureden. Gerade an ihrer Figur wird klar, dass in Strutzenbergers Dickinson-Universum ausgerechnet jene Gestalt, die auf den ersten Blick am fragilsten und immobilsten erscheint, nämlich die Schriftstellerin, jene ist, die das Beziehungssystem um sie herum dominiert. Gideon Maoz in der Doppelrolle des Bruders, der sich lieber in seine juristische Arbeit vergräbt als sich in die Untiefen der Seele Emilys einzudenken, und als Lavinia – Emilys Schwester – die von Zeit zu Zeit ihre Stellvertreterrolle einnehmen musste, macht mit diesen beiden Personen klar, wie schwer selbst dem nächsten persönlichen Umfeld das Verstehen eines hochbegabten Menschen wird, der nicht nur andere Denkmuster, sondern vor allem auch andere Verhaltensmuster entwickelt. Steffen Höld als T.W. Higginson versucht den ganzen Abend über als Literaturkritiker Emily nahezukommen, die er ausschließlich aus der Korrespondenz mit ihr kennt und von der er schon geneigt ist, sie für ein Phantom zu halten. Strutzenberger verleiht dieser Figur äußerst komische Züge, die Höld intensiv auslotet. Ein Schelm, wer unter den Theaterkritikerinnen einen Bezug zu seinem eigenen Berufsstand ableitet!

Mit der Frage nach dem Innen und Außen nicht nur einer persönlichen Lebensweise, sondern auch nach dem Innen und Außen des Kapitals schlägt der Autor den großen Bogen ins Hier und Jetzt. Die Wortkaskaden, die er dabei überwiegend Susan Gilbert zuschreibt, erinnern in der von ihm verwendeten Technik stark an Elfriede Jelinek. Es wäre ein künstlerischer Schachzug gewesen, hätte Strutzenberger diese Nähe bewusst gewählt, hätte er dabei doch die österreichische Literaturnobelpreisträgerin als legitime Nachfolgerin der Queen Recluse vorgestellt. Was ja insofern nicht von der Hand zu weisen ist, als diese, wie man weiß, als äußerst publikumsscheu gilt und öffentliche Auftritte meidet. Dieser Vergleich, der schon in einer der ersten Kritiken angesprochen wurde, hätte ihn verblüfft, bekannte der Autor freimütig, ohne dabei hinterfragt zu haben, inwieweit formale Ähnlichkeiten nicht zumindest von unbewussten Motivationen gesteuert gewesen waren.

Die spröde Bühne – im kleinen Nebenhaus leicht erhöht als Bühnenboden aufgebaut, der nur durch graue, durchsichtige Vorhänge unterteilt und abgeschirmt werden kann – lässt keinerlei kuschelige Wohngefühle aufkommen. Eine kluge Entscheidung von Christian Tabakoff, der die Regie von Martin Schmiederer kongruent räumlich umsetzt.

Thiemo Strutzenbergers Werk zeigt gut auf, dass es einzig in der Kunst möglich ist, Werk- oder auch Lebensinterpretationen von Autorinnen legitimerweise nach freiem Gutdünken durchzuführen. Die Literaturwissenschaft darf sich solchen Gedankenübungen nicht hingeben. Das Ergebnis des Abends verblüfft auch noch nach mehrmaligem „Nach“denken. Wird doch Dickinsons bewusst gewählte Abschottung plötzlich zum Ausgangspunkt mannigfaltiger Vergleiche – ob mit künstlerischen oder auch privaten Erlebnissen und Personen. Das ist vielleicht das stärkste Argument diese Inszenierung gutzuheißen.

P.S. Wer Dickinson einmal musikalisch erleben möchte, dem sei die junge, deutsche Band Emily´s Poetry Trio empfohlen. Die Gruppe hat in diesem Jahr einige Gedichte der Schriftstellerin vertont und auf CD gebrannt.

Links:

Previous

Next

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Pin It on Pinterest