Ein reduziertes, nichts desto trotz aber höchst ästhetisches Bühnenbild, ausgefallene Kostüme, die man auch als Kunstobjekte bezeichnen könnte und überzeugende, schauspielerische Leistungen – all das bietet derzeit das TNS (Theatre National de Strasbourg) mit einer Produktion der Compagnie Sirènes-Paris.
Madame de Sade, vom Japaner Yukio Mishima 1965 geschrieben und von Jacques Vincey in Szene gesetzt, kann als Lehrbeispiel für die geglückte Verschränkung unterschiedlicher Künste auf der Bühnen dienen. Nicht nur hohe Schauspielkunst wird hier zelebriert, sondern durch die wenigen, aber extrem klug konzipierten Bühnen- versatzstücke, durch die schon erwähnten Kostüme und den sparsamen, aber effektvollen musikalischen Einsatz ergibt sich ein Gesamtbild, das man nicht müde wird anzusehen. Die erzählte Geschichte – der Umgang von Madame de Sade sowie mehreren verwandten aber auch bekannten Frauen mit de Sades sexuellen Ausschweifungen – reduziert sich streckenweise auf ein Hintergrundgeschehen, so bestechend schön sind die klaren Bilder. Yukio Mishima schrieb ein Stück, welches die Komplexität der einzelnen Charaktere erst im Laufe des Abends klar macht.
Madame de Sade, gespielt von Hélène Alexandridis, entwickelt sich von einer zu Beginn naiv und starrköpfig an ihrem Mann festhaltenden Ehefrau zu einem Wesen, dem es gelingt, sich abseits von Konventionen eine eigene Meinung zum Geschehen zu bilden und im entscheidenden Moment ihrem Mann die Loyalität zu versagen. Anne Prospére, in der Rolle der Schwester, lebt ihr Leben ziel- und planlos, in allen Zügen genießend und frei jeglicher Konventionen. Sie ist jedoch die einzige, die am Ende ihre Zukunft aktiv in die Hand nimmt und mit Hilfe ihres Mannes Frankreich Richtung Venedig verlässt. Die Stadt, die zuvor nur in den schwärmerischsten Tönen von ihr gelobt wurde, wird ihr Überlebensrefugium. Spielerisch besonders gelungen ist jener Part, in welchem sie die Tauben von Venedig imitiert und dabei gleichzeitig ihre eigene Flatterhaftigkeit zur Schau stellt. Ihre polternde Mutter, Madame de Montreuil, dargestellt von Marilú Marini, zeigt dagegen zu Ende des Stückes, dass sie einzig und allein auf ihr eigenes Wohlbefinden bedacht ist und ihre Meinung je nach Umstand wie ein Fähnchen im Wind drehen kann.
Ihr Charakter findet sich in jeder gehobenen Gesellschaft eines jeden westeuropäischen Landes und stellt somit auch einen bestimmten Archetypus unserer Gesellschaft dar, der sich über die Jahrhunderte bis heute weiter tradiert. Sie, die ihren Schwiegersohn gerne im Gefängnis sah, hofft nach dessen Freilassung kurz nach Beginn der Revolution auf seine Hilfe, für den Fall, dass sie als Adelige zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Die bigotte Baronin de Simiane, Isabelle Mazin, einstige Kinderfreundin de Sades muss sich bei den Erzählungen über de Sades Gräueltaten die Ohren zustopfen, flüchtet vor der Welt vollends in die Religiosität im Kloster und versucht, so gut es ihr möglich ist, auch alle anderen vom Weg des Herrn zu überzeugen. Die Comtesse de Saint-Fond, plakativ und mit umwerfender Offenheit von Julia Vidit als Gegenpart der Baronin de Simiane vorgeführt, ist die einzige, die ihren Prinzipien bis in den Tod treu bleibt. Sie verteidigt von Anfang an die Neigungen de Sades und beneidet ihn ob dessen Erfahrungen. Genauso wie er lebt sie ihr Leben obsessiv bis in die letzte Stunde, wohl wissend, dass sie dadurch zu einer Außenseiterin abgestempelt wird. Sie geht schließlich so weit, unerkannt als Prostituierte zu arbeiten, nicht um des Geldes, sondern des unbeschreiblichen Reizes wegen. In den ersten revolutionären Aufständen wird sie zu Tode getrampelt und – der Geschichte sei Dank – vom Volk als Heldin gefeiert, da sie als eine von ihnen gehalten wird. Charlotte schließlich, in dieser Inszenierung von einem Mann – Alain Catillaz – gespielt, hält das ganze Stück über – dessen Geschehen sich über einen Zeitraum von 18 Jahren erstreckt – an ihrer / seiner Rolle als dienendes Element ohne große eigene Äußerungen fest. Er ist es auch, der zu Ende hin Stück für Stück der glänzenden Bodenplatten davonträgt und so eine schöne Metapher des Verfalls des Adels zeigt.
Die unterschiedlichen Betrachtungsebenen, in die das Stück von Mishima führen kann, begonnen von den ersten, profanen Äußerungen aller Beteiligten bis hin zu Überlegungen, wie eine Gesellschaft mit Menschen umzugehen hat, die jegliche übereingekommenen Verhaltensweisen sprengen, lässt einen breiten Interpretationsspielraum. Angefangen von den individuellen psychologischen Studien bis hin zu Übertragungen auf unsere heute sich so rasant und grundlegend ändernde Gesellschaft, spannt sich der breite Bogen der gedanklich möglichen Verbindungen. Die klare optische Umsetzung, die von sparsamen Gesten und Bewegungen unterstützt wird und ihre Wurzeln in der japanischen Theatertradition hat, hebt das Geschehen noch zusätzlich auf eine metaphorische Ebene. „Seht her, was hier gespielt wird betrifft euch in irgendeiner Art und Weise alle“ ruft es dem Publikum lautlos und doch deutlich verständlich zu.
Claire Ristercucci ist mit den Kostümen ein Meisterwerk gelungen. Ihre Konstruktionen, die das Gerüst von Reifröcken bilden, bleiben fast durchgehend sichtbar, nur von wenigen Stoffstücken bedeckt. Durch die Sperrigkeit dieser Ungetüme baut sich zwischen den Frauen eine unnatürliche Distanz auf, die nur in wenigen Augenblicken durchbrochen wird. Dann nämlich, wenn starke Emotionen wie Mitleid Madame de Sade ergreifen, die ihre Mutter in ihrer Hilflosigkeit und ihrem Schmerz trösten will. Behende verlässt sie ihren Reifpanzer um sich so, ohne Behinderung an ihre Mutter kurz anzuschmiegen. Kleine, italienische Kantaten, aus verschiedenen Jahrhunderten, werden vom gesamten Ensemble hinter einem dunklen, aber dennoch durchsichtigen Paravent vorgetragen. Sie markieren jeweils den Beginn der unterschiedlichen Szenen und erübrigen einen herkömmlichen Vorhang. Einige rhythmische Akzente, die mit japanischem Instrumentarium gesetzt werden, unterstreichen und verstärken einige Aussagen der handelnden Personen. Durch diese Kunstgriffe und die starke Konnotation mit japanischer Bühnenästhetik gelang eine Aufführung, die trotz ihrer Ansiedelung zu Ende des 18. Jahrhunderts als zeitlos gelten kann und gerade deswegen besonders reizvoll wirkt.
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