Liquid Loft, Österreichs Vorzeigetruppe von Chris Haring zeigte „False colored Eyes“ in der Serie Imploding Protraits Inevitable im Kasino des Burgheaters. Psychedelisch, hypnotisch, tänzerisch vom Feinsten hinterlässt es Spuren im eigenen Bewusstsein.
Schon während des Betreten des Saales ist die Party im Gange. Die Musik läuft. Auf der Bühne, nur durch zwei Stellwände vom Raum im Kasino des Burgtheaters am Schwarzenbergplatz abgetrennt, befinden sich lauter junge Menschen. Männer und Frauen. Sie beginnen sich wie in Zeitlupe zu bewegen, währenddessen auf der großen Leinwand hinter ihnen ihr Tun gespiegelt wird. Plötzlich ein Endlosloop und die Tänzerinnen und Tänzer von Chris Harings Liquid Loft scheinen in ihren Bewegungen im Zwei-Sekunden-Rhythmus festzustecken.
Dann nimmt der Film kurz wie im Schnelldurchlauf Fahrt auf. Er spult sich vor den Augen des Publikums sowohl live, als auch offensichtlich zuvor bereits aufgenommen, auf der weißen Wand hinter den Tänzerinnen und Tänzern ab. Verschränkt und überlagert sich, gibt der Aufmerksamkeit keine Sekunde Verschnaufpause. Wo man hinsieht, es bleiben immer Lücken, immer etwas, das einem entgeht. Ein Schattenpaar diskutiert solange, bis sich einer der beiden emanzipiert und weggeht und der andere in einer Endlosschleife festsitzt. Langsam nähert sich eine der Tänzerinnen einer Kamera, die in Großaufnahme in ihren Mund fährt. Eine Achsel darf ihr Panoramapotenzial zeigen und spätestens jetzt ist es klar: Das Anbetungswürdigste, was der Mensch hat und zeigen kann, ist sein eigener Körper. Schön muss er sein. Und schön sind sie alle. Psychedelische Musik (Andreas Berger) tut ein Übriges, um die Stimmung so zu beeinflussen, dass das Zuschauen selbst zu einem Happening wird. Was ist real, was ist hier Fake? Die Stimmen vom Band, die Lippen nicht immer ganz synchron dazu bewegt – dieser audio-visuelle Input verstärkt die Unsicherheit, die sich beständig ausbreitet. Die eigene Wahrnehmung infiltriert. Wenn sich Augenlider heben und wieder senken begleitet laut hörbares Klicken dieses feine Bewegungsmuster. Auf Drogen? Das Publikum oder das Ensemble, oder beide?
Eine gekonnte Projektionstechnik verwandelt einen weiblichen Körper in ein Ungeheuer, eine mythologische Figur. Der Sound wird lauter, der Beat härter, die Körper werden von oben bis unten durchgeschüttelt, Zuckungen, die von innen kommen aber dennoch von außen aufoktroyiert erscheinen. Wer bist du, wer bin ich? Wie siehst du aus, wie ich? Zwei Frauen beginnen ihre Körper miteinander zu vergleichen. Der Abend schreitet voran, die Hemmungen fallen. Liebe wird öffentlich, egal ob zwischen Frauen und Männern. Die fulminante Lichtregie (Thomas Jelinek), welche die abstrakte Szenerie in weiß-blaue Räume taucht, vernebelt zusehends die eigene, bildliche Wahrnehmung. Drugs, more drugs please, wenn das ihr Output ist. Die Frau mit den Perlenohrringen – nein, es fehlen ihr die Ohrringe, aber ihr Kopf, ihr Torso weist die gleiche sanfte Drehung auf. Einfach laufen lassen, Eindrücke sammeln, Assoziationen zulassen und nicht mehr unterscheiden wollen zwischen jetzt und damals. Zwischen heute und gestern.
Eine Bodenchoreografie in der die Schwerelosigkeit dominiert, die Erdanziehungskraft aufgehoben erscheint, wird abgelöst von einer Videoeinspielung, die man aus diversen Werbechannels kennt. Ein Gaumenzäpfchen mutiert zu einem Stalagtiten, die Tropfgeräusche unterstreichen den Eindruck einer kalten, nassen Höhle. Es ist der Zeitpunkt erreicht, in dem sich die bisher wahrgenommene Realität völlig aufhebt. Wo ist mein Ich, was fühlte ich noch vor einer Stunde, wo habe ich es verloren? Wann habe ich es verloren?
Zwanghafte Waschbewegungen und ihr Sound vervielfachen sich zu einer bedrohlichen Szenerie. Das Normale wird zur Angst einflößenden Aktion. Too much drugs scheinen auch nicht gut zu sein. Die X-fach-Projektion kommt noch mehrfach zum Einsatz, genauso wie die Zeitlupe, in der alle gefangen zu sein scheinen. Das Gefühl der roaring Sixtees mit „sex, drugs and rock n roll“ feiert hier keine Auferstehung. Es wird gelebt, gespürt und überträgt sich knappe 50 Jahre später ins Wien von 2015. Andy Warhol-Zitate aus seinen Filmen tauchen hier und dort auf. Ein Wuschelkopf, ein gestreifter Pullover, schöne, junge Frauen. Das, was „False Colored Eyes – Imploding Portraits Inevitable“ mit viel technischem Aufwand evoziert, sind unglaubliche Schwindelgefühle abseits des kognitiven Denkens. Spätestens beim Verlassen des Saales wird man sich dessen richtig bewusst. Die Schritte müssen mit Bedacht gesetzt, der Verkehr auf dem Schwarzenbergplatz besonders aufmerksam verfolgt werden.
Luke Baio, Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio und Karin Pauer sollten dieser Inszenierung in ihren Biographien einen besonderen Stellenwert verleihen. Denn sie ist eine Ausnahmeerscheinung, gereicht Chris Haring und ihnen zur Ehre. Stärkt damit seinen Platz nicht nur im österreichischen Tanzhimmel sondern weit darüber hinaus. Es wird keinen Ort geben, an dem „False Colored Eyes“ nicht funktioniert. Zu ausgeklügelt ist das Konzept im Zusammenspiel von Tanz, Film, Musik und Sprache. Zu ausgeklügelt, als das man sich ihm entziehen könnte. Andy Warhol, künstlerischer Vordenker und in seinem Weitblick in Bezug auf audio-visuelle Medien völlig unterschätzt, weil festgenagelt auf läppische Portraitserien, kann von hier aus erneut angedacht, weitergedacht werden. Nicht eklektisch, sondern frisch, unter anderen Gesichtspunkten, mit Emotionen, die tiefer und stärker wirken als jede theoretische Abhandlung. Zeitgenössischer high-end Tanz.