Alles zurück auf Anfang
05. November 2023
Es hat nur 187 Jahre gedauert, schon sind wir beinahe wieder da, was uns noch vor 50 Jahren undenkbar erschien. Die Reichen sind so unsagbar reich und die Armen wieder so unsagbar arm, dass vorhersehbar ist, dass diese gesellschaftliche Ungleichverteilung nicht ad Infinitum andauern wird. Im Grazer Schauspielhaus wird einem diese Erkenntnis, trotz der Schwere der Thematik, mit Leichtigkeit und Humor kredenzt.
Michaela Preiner
Leonce und Lena am Schauspielhaus Graz
Foto: (Lex Karelly)

Georg Büchners Leonce und Lena verfasste der Autor des Vormärz, der hellsichtig seine Zeit beobachtete, aber leider viel zu jung starb, im Jahr 1836. Dieses Drama, als Komödie geführt, ist vielmehr eine scharfe Abrechnung mit den absolutistischen Umständen seiner Zeit. Die Französische Revolution war eines der einschneidendsten gesellschaftlichen Ereignisse, oder besser gesagt, die Ereignisse, die zu ihr führten und jene, die nach dem Terreur in eine neue Gesellschaftsordnung mündeten.

Leonce und Lena am Schauspielhaus Graz

Leonce und Lena am Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Büchner spürte die Nachbeben dieser Zeit in Darmstadt, das zum Großherzogtum Hessen gehörte und musste erleben, wie die Menschen damals noch von den absolutistischen Gnaden der jeweils herrschenden Adelsgeschlechter abhängig waren.

Heute, knappe 200 Jahre später, erleben wir in der westlichen Welt gerade den Umbruch von freien Demokratien hin zu neuen absolutistischen Formen. Die Gemeinsamkeit des Neolibertarismus und des Turbokapitalismus schufen eine neue Kapitalkonzentration, die jener der Absolutisten verblüffend ähnlich ist und einen neuen Geldadel hervorbrachten.

So verwundert es nicht, dass die Autorin und Regisseurin Rebekka David Büchners Werk mit Leichtigkeit in die Jetzt-Zeit adaptieren konnte. Früher hießen sie Leonce und Lena, heute vielleicht Viktoria und Mark oder Ivanka und Jared. Das, was die jungen Menschen, ohne ihr eigenes Zutun zu großem Reichtum gekommen, in ihrem Innersten bewegt, dürfte sich über die Jahrhunderte nicht wirklich geändert haben. Der Langeweile, welche die Erbengeneration schier auffrisst, entkommen sie nur durch Flucht aus ihrer Heimat. Der Zufall fügt beide, welche von der Fusion, der Firmenverheiratung, der beiden Firmenimperien nichts wissen wollen, dennoch zusammen. Weniger Zufall als blanke Berechnung wird letztlich einen großen Gewinner hervorbringen: Valerio, der ehemalige Diener von Leonce, ergreift die Gunst der Stunde und zieht alle Macht an sich, um dem neuen Superimperium vorzustehen.

So zeitgeistig David das Geschehen auch auslegt, dennoch spürt man aufgrund des Bühnensettings und der Kostüme noch immer einen Hauch Vormärz. Dies ist auch Rudi Widerhofer zu verdanken, der als Vater von Leonce in einem historischen Nachtgewand, senil verblödet, sich am Ende ebenfalls seinem Schicksal ergibt. Bis dahin hält er den Fortgang der Geschichte mit Humor zusammen, obwohl er zutiefst depressiv, mit seinem Schicksal und vor allem dem seines Sohnes, der sich zu keinem Tun aufraffen kann, hadert.

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Leonce und Lena am Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Otiti Engelhardt als Lena und Dominik Puhl als Leonce machen zwar klar, dass reich sein auch nicht immer ein Honigschlecken ist. Beobachtet man aber das beständige Tun ihrer Angestellten, der Gouvernante, gespielt von Annette Holzmann und von Valeria, dargestellt von Mario Lopatta, kommt man zu einem untrüglichen Schluss: Die Jeunesse dorée ist nur mit ihren Luxusproblemen behaftet, vom Leben der Habenichtse hat sie keine Ahnung, vielmehr noch, sie will auch keine haben. Lena und Leonce wirbeln in ihrer Verliebtheit völlig problemvergessen über die Bühne und ziehen ihre Dienerschaft dabei ungefragt mit. Spielen ist ihre liebste Beschäftigung, die sie, gebildet wie sie sind, auch mit dem „homo ludens“-Begriff von Johan Huizinga rechtfertigen.

Das Bühnenbild von Robin Metzer ist aufwändig und vielfältig. Die Drehbühne, sowie Video-Einspielungen und weiterer bühnentechnischer Theaterzauber gestalten die knappen zwei Stunden höchst abwechslungsreich. Wie schon in den vorangegangenen Produktionen dieser Spielzeit auf der Hauptbühne „Von einem Frauenzimmer“ und „Sonne/Luft“ wird die Bühnentechnik voll ausgenutzt, was einer berechtigten Rückbesinnung auf den Reiz der Möglichkeiten des Theaters gleichkommt.

Anna Maria Schories verpasst dem jungen Liebespaar gendermäßig entgegengesetzte Outfits. Die dabei verwendeten üppigen Tüllbahnen zeugen von ihrer ‚Outstanding role‘, ganz im Gegensatz zu ihren Bediensteten, die in dunkleren Rosatönen praktische Hosen-Hemd-Kombinationen tragen.

Valerio und Lena sind diejenigen, die sich mit dem Problem der Vollzeitbeschäftigung und jener des Müßiggangs intensiv philosophisch auseinandersetzen. Die junge Frau kann dies aufgrund ihrer privilegierten Stellung tun, die sie zu nichts verpflichtet. Der Bedienstete von Leonce hingegen wünscht sich nichts sehnlicher, als einen Zustand herbeiführen zu können, in welchem das Nichtstun zur höchsten Tugend erhoben wird. Die Gouvernante hingegen zeigt immer und immer wieder auf, welcher Mehrbelastung sie ausgesetzt ist, nicht zuletzt durch Teilzeitanstellungen, die ihre permanente Verfügbarkeit verlangen. Der Text belässt die einzelnen Charaktere so, wie Büchner sie angelegt hat und verwendet an einzelnen Stellen auch Zitate aus seinem Drama. Dabei werden diese zum Teil von anderen Personen gesprochen, aber auch zeitgeistig erweitert. Jene, die den Originaltext kennen, werden ihre Freude daran haben. Gekonnt werden auch Bezüge zu Graz hergestellt, wenn es heißt, dass junge Menschen sich heute nicht einmal mehr ein Anwesen in Andritz erwirtschaften könnten. Oder auch, dass die arbeitende Bevölkerung sommers zwei Wochen nach Grado fährt, um dort wieder Energie aufzutanken, um das nächste Jahr durcharbeiten zu können.

Mit dem Auftritt von Elisabeth Wondrack, ihres Zeichens Souffleuse im Grazer Schauspielhaus, wird klar, dass 225 Jahre nach der Französischen Revolution das Gefälle zwischen Arm und Reich wieder an jenem Punkt angelangt ist, welcher der Ausgang des Gesellschaftsumsturzes war. Sie möchte sich beim alten Herrscher andienen und zählt eine lange Liste von Berufen auf, die sie ausführen kann. Es sind jene, in welchen die Menschen prekär verdienen und denen wir alle tagtäglich als Boten, Putzpersonal, Alten- und Kinderbetreuende begegnen.

Obwohl die Inszenierung ein neues Gewand trägt, so gelingt die Vermittlung der Meta-Botschaft, dass wir uns in einer historischen Wiederholungsschleife befinden, aus der unsere Gesellschaft jedoch noch keinen Ausweg gefunden hat. Es ist der australische Historiker Christopher Clark, welcher die Parallelen unserer Zeit zum Vormärz und zur Revolution von 1848 herausgearbeitet hat. Diese Erkenntnis, kunstvoll umgesetzt, darf man Rebekka David anrechnen.

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