Rassismus, Gentrifizierung und soziale Ausgrenzung

Der ungarische Theater- und Filmemacher Kornél Mundruczó und sein Proton Theatre, in Wien seit einer Festwochen-Produktion 2012 keine Unbekannten mehr, beschäftigen sich dieses Jahr, ebenfalls wieder auf Einladung der Festwochen, mit dem Thema Rassismus, Gentrifizierung und soziale Ausgrenzung. In seiner eher bedächtigen Inszenierung von „Látszatélet / Scheinleben“ beleuchtet er das Leben zweier Frauen und ihrer Familien in prekären, sozialen Situationen in Ungarn.

Zu Beginn sieht man mehr als 20 Minuten auf einer Leinwand, die den Blick auf das Bühnenbild noch verwehrt, nur das Gesicht von Lorinc Ruszó, sehr sensibel und authentisch von Lili Monori gespielt. Sie befindet sich in einem Streit-Gespräch mit dem Geldeintreiber Mihály Sudár. Es geht, oberflächlich betrachtet, um offene Mietschulden und doch nützt Mundruczó die Szene, um die Lebensumstände von Ruszó näher zu erklären. So erfährt man auch, dass der Sohn schon längst die Familie verlassen hat und der Ehemann vor zwei Tagen verstorben ist. Nun ist die Frau eine alleine lebende Romni und so dem neuen Eigentümer mehr oder minder schutzlos ausgeliefert. Während des Gespräches erleidet sie einen Herzinfarkt und verstirbt schließlich im Krankenhaus. Nicht unschuldig daran ist die telefonisch alarmierte Rettungsmannschaft, die rasch erklärt, dass der Bezirk, in dem die Frau lebt, keine Priorität bei der Versorgung hat. Bis hierher erzählt Mundruczó eine „normale“ Geschichte über die Gentrifizierung von ganzen Stadtteilen, die beinahe auserzählt wäre, wenn er nach dieser Szene nicht die ganze Wohnung einmal auf den Kopf stellte und dabei um 360° drehen ließ.

Márton Ágh ist für das hervorragende Bühnenbild verantwortlich, das in allen Phasen des Stückes überzeugt. Das durch die Drehung entstandene Chaos und die Unordnung ist eine anschauliche Metapher auf unruhige, chaotische Zeiten, in denen sich für viele das Leben auf den Kopf stellt und es keine festen Bezugspunkte mehr gibt. Rasch wird klar, dass die Makler und Vermieter immer Opfer finden, die dringend eine Wohnung benötigen, so wie die junge Frau Veronika Fenyvesi. Mihály Sudár trifft als Makler und Geldeintreiber auf diese alleinerziehende Mutter, die in einer On-Off-Beziehung lebt und Opfer von häuslicher Gewalt ist. Wie in vielen Fällen, ist es ihr jedoch nicht möglich, sich von ihrem gewalttätigen Freund zu trennen. Der Regisseur arbeitet mit der Einspielung von SMS-Meldungen, an denen man die Gewaltspirale und die Aussichtslosigkeit des Flüchten-Wollens von Fenyvesi nachvollziehen kann. Dass die junge Alleinerzieherin Schwierigkeiten hat, ihren Sohn ausreichend zu ernähren, erklärt einen Teil ihrer Abhängigkeit.

Die Geschichte von Istvan Ruszó (Zsombor Jéger), Ausgangspunkt der Inszenierung, der sich seit seinem Auszug aus der elterlichen Wohnung Silveszter nennt, wird nur am Rande gestreift. Seine reale Biographie war Ausgangspunkt zu dieser Inszenierung. Es wird schnell klar, dass er alles versucht, um nicht als Roma erkannt zu werden. Er versucht seine Herkunft nicht nur zu verleugnen, sondern ihr gänzlich zu entkommen. Aber hell gefärbte Haare und auch eine aufgehellte Haut ändern schließlich nichts an der Roma-Falle, in der er lebt. Die versteckte bzw. offene Diskriminierung der Roma in Ungarn wird auf subtile Art thematisiert und zeigt, wie hartnäckig und tradiert Vorurteile und Ausgrenzung auch im 21. Jahrhundert noch manifest sind. Eine detailliertere Herausarbeitung der Befindlichkeit von Silveszter wäre dramaturgisch wünschenswert gewesen, so kam der Schluss extrem abrupt und unerwartet. Der junge Mann kommt in die Wohnung seiner verstorbenen Mutter und findet dort nur den ca. 11-jährigen Sohn von Veronika Fenyvesi vor, die dort schon eingezogen ist, allerdings für ein Treffen mit ihrem Freund den Sohn alleine zurück gelassen hat. Das Stück endet schließlich mit dem Hinweis auf den Mord eines Roma-Jugendlichen in einem Bus, der von Istvan verübt wurde. Eine psychologisch einfühlsamere Erarbeitung dieses Charakters hätte zu mehr Verständnis und vielleicht auch mehr Empathie führen können.

So fesselte die Geschichte trotz ihrer realen Vorlage nicht wirklich. Vielmehr wurde damit nur eine Kurzzeit-Betroffenheit evoziert. Ein Stück mit einem großen Thema, bei dem aber aufgrund einer mangelhaften Dramaturgie viele echte Reflexions-Chancen vergeben wurden. Zugleich zeigt die Inszenierung auch, dass es nicht immer möglich ist, zeitgenössisches Theater 1:1 in einem anderen Land, und sei es auch nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, umzusetzen. Es ist möglich, dass Látszatélet in Ungarn anders rezipiert wird, denn 2005, als der Jugendliche ermordet wurde, war das Ereignis dort in allen Medien präsent. Dieses Vorwissen, eingebettet in ein anderes soziales Umfeld als es in Wien anzutreffen ist, ergibt ein nicht zu unterschätzendes, anderes Mind-Setting.

Es spielten: Dáriusz Kozma, Annamária Láng, Lili Monori, Roland Rába, Zsombor Jéger
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