Die Toten geben nie Ruhe
Von Michaela Preiner
Eine Abrechnung mit dem Schweigen
In seinem Auftragsstück „Lass dich heimgeigen, Vater oder den Tod ins Herz mir schreibe“, rechnet der mit dem Büchner-Preis dekorierte Autor mit dem Schweigen auf dem Bauernhof seiner Kindheit ab. Mit dem Schweigen seines Vaters, der ihm bis zu seinem Tod mit 99 Jahren nie erzählte, dass auf einem Feld, das von der Familie und Nachbarn mit Roggen und Weizen bestellt wurde, ein Judenmörder, Odilo Globocnik, verscharrt wurde. Aber er rechnet auch mit dem Schweigen seiner Mutter ab, die nach dem Tod ihrer drei Brüder im 2. Weltkrieg nur mehr selten sprach. Nicht zuletzt ist es auch das Schweigen seines Heimatdorfes, in dem sich Unrecht auf vielen Ebenen verbirgt.
Das Ensemble agiert auf der Bühne ohne Unterlass. Wer gerade nicht mit einem Monolog an der Reihe ist, folgt einer Choreografie, die alle dazu zwingt, permanent in Bewegung zu sein. Jeder der Beteiligten spult dabei immer gleiche Bewegungsmuster ab, durchmisst den Raum mit langsamen Schritten oder breitet seine Arme aus, läuft quer über die Bühne oder überquert sie, grazil tänzelnd, in der Diagonale. Winklers Erinnerungen, wie die eines jeden Menschen, folgt gewissen Erinnerungsschleifen. Die immer wieder kehrenden Bewegungen können wohl als Sinnbild dieser Muster gedeutet werden, in die man im Alter immer stärker verfällt. Zugleich schaffen diese auch die Möglichkeit, die abwechselnden Selbstgespräche, wenngleich immer an das Publikum gerichtet, wie aufkommende Gedanken erscheinen zu lassen, die, kaum formuliert, auch schon wieder verschwinden.
Italien, Spanien, Frankreich, Österreich – überall wird verdrängt
Bis auf einen alten Schwarz-Weiß-Fernseher, der etwas außer der Mitte am Boden steht, gibt es kein weiteres Bühnenbild (Christoph Rufer). Darin laufen, von Beginn bis zum Schluss, flüssig zusammengeschnitten, Auftritte von Sängerinnen der 70er-Jahre aus Frankreich, Italien und Spanien. Die dunklen Momente, die in Winklers Text aneinandergereiht werden, die Schläge des Vaters, das Auspeitschen, das er von seiner von ihm geliebten Mutter mit einer Rute über sich ergehen lassen musste, die Nazi-Verherrlichungen seiner Onkel bis hin zu einem Doppelselbstmord von zwei 17-Jährigen im kleinen Ort – all das wird von einer Schlagermusik aus jener Zeit untermalt, in der Winkler selbst noch ein Junge war. Picksüßes Beschwichtigungsfernsehen mit dem subkutanen Hinweis, dass die Verdrängung der Schuld nach dem Krieg nicht nur in Österreich blühte und gedieh.
Winkler verschränkt in dem Stück seine eigenen Kindheitstraumata, sein Verhältnis zu Vater, Mutter und den Großeltern mit deren Vergangenheit. Er erzählt von ihren Traumata und ihrer Unfähigkeit damit umzugehen genauso, wie dem eigenen Scheitern an einer Kindheit, die ihn – an einer Stelle benennt er es explizit – gebrochen zurückgelassen hat.
Unterteilt wird der Text von der Ballade „Der Herr schickt den Jockel aus“, welche die unterschiedlichen Erzählebenen voneinander trennt und das Geschehen zusätzlich rhythmisiert. In ihm herrscht – bis in die letzte Strophe, beständiger Ungehorsam, der erst am Ende von der Autoritätsperson, dem Herren selbst, wieder zurechtgerückt wird.
Das Bauernhaus, das Dorf
In eindringlichen Bildern lässt Winkler die bäuerliche Umgebung, in der er aufwuchs, wieder aufleben: Das Sterbezimmer seiner Großeltern im 1. Stock, erreichbar über 16 Holztreppen, ihre offenen Särge, die schwarze und weiße Küche, das fluoreszierende Kruzifix, das in Grün aus der Stube leuchtete, die „Sautratten“ – jenes Feld, auf dem Getreide angebaut wurde, aber auch das Dorf selbst und seinen Friedhof. Er beschreibt darin auch, wie er als junger Autor von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wurde und – für ihn wahrscheinlich völlig unerwartet – sein alter Vater ihm zugestand, auch über ihn zu schreiben – wenn es ihm denn helfen würde – zugleich aber darum bat, aber die toten Jungen im Dorf in Ruhe zu lassen. Die Homoerotik, wegen der die Jungen den Tod suchten, liegt in der Inszenierung selbst auf der Hand, ausgesprochen wird sie von Winkler jedoch nicht. Eine Reue, die weder seine Familie noch die Dorfgemeinschaft verspürt, ereilte, wie zum Hohn, Josef Winkler selbst. Angeekelt von dem Gedanken, dass das Getreide auf der „Sautratten“, aus dem das Brot zum täglichen Leben, das Futter für die Hühner, Pferde und Ziegen stammte, sich jenes verrottenden Leibes bedienten, der 2 Millionen Juden am Gewissen hat, verweigerte er ein halbes Jahr lang beinahe jede Nahrung, so lange, bis er, extrem abgemagert, seine „Brustbeine als Klaviatur verspürte“. Am Schluss des Abends steht die Erkenntnis, dass er seine Kindheit auch im Nachhinein nicht auslöschen kann und bis an sein Lebensende von den Toten heimgesucht werden wird. Aber auch die Erkenntnis, dass er weiter schreiben muss. Schreiben, um dem Schweigen seiner Familie, dem Schweigen seines Dorfes etwas dagegenzuhalten. Der Text von Josef Winkler und die Regie von Alia Luque gehen eine gekonnte Symbiose ein. In ihr wird das Gestern zum Heute. In ihr steht der Autor selbst auch für viele andere, deren Kindheit mit Angst und Schrecken besetzt ist. Nicht zuletzt kann in ihr auch das kleine Dorf Kamering bei Paternion, Winklers Heimatdorf, als Sinnbild für unzählige andere Ortschaften stehen, die, egal wo in Europa, ihre dunkle Vergangenheit bis heute mit grausamer Bravour verdrängen.
Ein dichter Abend, dem man seine 2 Stunden 20 nicht anmerkt, mit einem zu Recht bejubelten Ensemble.
Weitere Termine im Kasino am Schwarzenbergplatz