Tausche Fressen gegen Freiheit

Ein großer Bauzaun trennt das junge Publikum von der Bühne. Dahinter befindet sich Sven Kaschte. Er trägt ein Holzfällerhemd, eine dicke Cargo-Hose und schwere Schnürstiefel und ignoriert die Kinder, die auf den Zuschauer-Reihen Platz genommen haben. Seelenruhig übt er eine kleine Melodie auf seiner Melodica und bemerkt auch nicht, als Viviane Podlich sich daran macht, Obst aus einer Kiste zu stibitzen, das offenbar ihm gehört. Erst als sie in einem Bottich mit Wasser beinahe ertrinkt, erhebt er sich von seinem Sitz und zieht sie pitschnass aus dem Wasser. Nach und nach wird klar, wer die beiden wirklich sind. Sven spielt einen Grizzlybären und Viviane eine Krähe, die in seinem Gehege nach Futter sucht.

Der Dschungel Wien zeigt derzeit eine sehr gelungene Produktion für Kinder ab 8 Jahren. „Krähe und Bär oder die Sonne scheint für uns alle“ nennt sich das Spiel nach einem Text von Martin Baltscheit. In Szene gesetzt wurde es schier genial von Julia Burger. Der Bär, von dem man zu Beginn glaubt, dass er sich an diesem Ort wohl fühlt, mutiert zusehends zu einem depressiven Geschöpf, dem jede Hoffnung auf Freiheit abhanden gekommen ist. Die Krähe, die ihn täglich besuchen kommt, nimmt er nur als lästig wahr. Zwar möchte sie primär tatsächlich nichts Anderes, als sich ihre tägliche Futterration sichern, aber im Gegensatz zum Bären liebt sie es, mit anderen zu reden. Ihre Schlauheit und des Bären Wille, endlich in die Freiheit zu gelangen, drehen das Spiel plötzlich in eine ganz unerwartete Richtung.

Zur allergrößten Freude der Kinder schlüpfen die beiden in die Haut des jeweils anderen und erleben so ein gänzlich neues Lebensgefühl. Die Regisseurin greift dazu in die Licht-Trickkiste und bewirkt dabei ein Lust-Gekreische ihres Publikums der besonderen Art. Wunderbar, wie Kaschte vom behäbigen Bären in ein gefiedertes Wesen mutiert, das keine Ahnung davon hat, dass in der Freiheit um jeden Bissen gekämpft werden muss. Einfach herrlich, wie Podlichs Bauch ob der vielen Leckereien im Zoo anschwillt und ihr Unternehmungsgeist proportional dazu abnimmt. Die beiden sind das Salz in der Suppe der Geschichte und tragen diese mit Witz, Spielfreude und enormem Können bis an den Schluss. Dafür brauchen sie weder eine Bären- noch eine Krähenmaske. Das Flügelschlagen des Vogels und das Brummen des Bären werden von den beiden derart kunstvoll wiedergegeben, dass Verkleidungen dafür überhaupt nicht notwendig sind.

Krähe und Bär (c) Ani Antonova

Krähe und Bär (c) Ani Antonova

Ganz nebenbei bekommt man mit, dass das Leben in einem Zoo nichts Anderes ist als brutale Freiheitsberaubung. Mit Sicherheit werden die Kinder nach dieser Aufführung ihre zukünftigen Zoobesuche aus einem anderen Licht sehen. Dass die Geschichte nach einem dramatischen Höhepunkt, der virtuell vor die Türe des Theaterraums führt, gut ausgeht, ist Balsam, nicht nur für die Kinderseelen.

„Krähe und Bär – oder die Sonne ist für uns alle da“ ist eine wunderbare Aufführung mit einer tollen Regie und großartig gespielt. Sie gehört zu den gelungensten dieser Saison. Unsere Empfehlung: Wann immer möglich Kinder an die Hand nehmen und rein in den Dschungel!

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