Kopf trifft Herz


Im Rahmen des Festivals Musica in Strasbourg gelangte Wolfgang Rihms Stück Deus-Passus – Passions- Stücke nach Lukas“ mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR und der Gächinger Kantorei Stuttgart unter der Leitung von Jonathan Stockhammer zu seiner französischen Uraufführung. Das bereits im Jahre 2000 entstandene eineinhalbstündige Werk basiert auf Textausschnitten der Lukaspassion, in die lateinische Zitate der Karfreitagsliturgie eingeschoben sind und endet mit dem Gedicht „Tenebrae“ von Paul Celan, in welchem die Greuel des Holocaust zur Sprache kommen. Der sehr komplexe, kompositorische Aufbau strotzt einerseits von musikhistorischen Zitaten – die sich hauptsächlich auf Bach beziehen – andererseits hält er das Publikum in Spannung, da nichts, aber auch gar nichts einer logischen Folgerichtigkeit unterworfen ist. Mit nichts ist sowohl der Einsatz der Solostimmen gemeint, als auch die Tempo- oder Lautstärkenbezeichnungen. Rihm verwendet nicht einen Sänger für eine bestimmte Rolle, sondern lässt alle Sänger, sowie teilweise auch den Chor, abwechselnd oder auch zugleich die einzelnen Charaktere vorführen. Dort, wo man laute Passagen erwarten würde, wie zum Beispiel im Ausruf des Volkes „Kreuziget ihn, kreuziget ihn“ hat er dem Chor eine Flüsterpassage zugewiesen, in welcher die Aufforderung, Christus zu kreuzigen, fast einer magischen Beschwörung gleich kommt. Einige Textpassagen, die wiederum keine Affekte wiedergeben, werden mit aufbrausenden Forti begleitet. Der kunstvolle Aufbau kann jedoch nur erkannt werden, wenn zumindest die Textpassagen mitgelesen werden können. Hat man diese nicht vor Augen, fällt es schwer, der Rihmschen Unlogik, die sich über das ganze Werk logisch zieht, zu folgen. Wolfgang Rihms Deus-Passus beruht aber nicht ausschließlich auf den religiösen Texten, sondern endet auch mit Celans Gedicht, in welchem das Leid und die Verlorenheit der Juden in den Konzentrationslagern beschrieben werden. Aus diesem Blickwinkel muss man dem Komponisten eine philosophische Behandlung der Thematik zugestehen, die die Frage nach Gott angesichts der Greuel des Krieges vor allem vor dem Hintergrund der Massenvernichtung der Juden aufwirft. Interessant ist, dass der Komponist dabei nicht als Zertrümmerer agiert, der Gott endgültig von seinem Thron stößt – dafür gleitet seine Musik über lange Strecken viel zu ruhig und besonnen dahin. Vielmehr lässt sich seine Idee mit jener des Philosophen Hans Jonas vergleichen, der 1984 die Theodizeefrage, warum lässt Gott, wenn er doch so mächtig ist, Greuel dieser Art überhaupt zu, so beantwortete, dass er die Verantwortung für das Tun nicht Gott sondern den Menschen alleine überließ. Riehms Dekonstruktion zerschlägt nichts und sie schafft keinen Affront, aber sie wirkt subtil bis in die letzte Faser des Herzens. Das Elend der Menschen wird nicht, wie heute in den Medien üblich, plakativ vorgeführt, sondern gerade durch die Unaufgeregtheit, die das Stück durchzieht, weitet es sich zu wahrem Grauen aus. Ein Grauen, das sich nicht zuletzt aus unserem eigenen Intellekt begründet, welcher Gott Schritt für Schritt dekonstruiert hat. Die Aufführung lebte vor allem auch von den wunderbaren Solisten, die samt und sonders sich in bester Stimmverfassung präsentierten. Juliane Banse, Sophie Harmsen, Ingeborg Danz sowie Christoph Prégardien und Michael Nagy sangen ihre teilweise schweren Partien brillantest und trugen so viel zum Gelingen der Aufführung bei. Der junge Dirigent Jonathan Stockhammer, der mit einfühlsamer Gestik dirigierte, entlockte der Partitur auch jedes noch so kleine Stückchen Sinnlichkeit und wurde diesbezüglich von der Gächinger Kantorei Stuttgart ideal unterstützt. Ein berührender Abend in Strasbourg, an welchem der Präsident des Festivals, Rémy Pflimlin, in seinen einleitenden Worten auf den im Sommer verstorbenen, elsässischen Politiker Adrien Zeller verwies, der vor allem durch seinen Einsatz für die deutsch-französische Annäherung auf beiden Seiten des Rheins beliebt war.
Ein kurzer musikalischer Ausschnitt

Weitere Infos zum Festival unter: https://www.festival-musica.org

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