Wer ist man, wenn man sprachlos ist?
14. November 2023
Daniel Kramers Interpretation des Dramas „Kaspar“ von Peter Handke, zu sehen im Akademietheater, ist empathisch und zugleich schrill. Der Regisseur geht darin nicht nur der Frage nach, wie Spracherwerb vor sich geht, sondern auch, was in einer Gesellschaft passiert, wenn nicht mehr gesprochen wird.
Michaela Preiner
Theater
Foto: (Susanne Hassler-Smith)

Peter Handke ist ein Geschichtenerzähler. Aber auch ein Sprachsezierer. In seinem Stück „Kaspar“ aus dem Jahr 1967 tat er beides. Wer seiner Sprachkunst darin auf die Schliche kommen möchte, dem oder der bleibt nichts anderes übrig, als den Text zu lesen. Nach einem Hype nach der Veröffentlichung wurde es ruhiger um das Drama, dessen Ausgangspunkt die Geschichte von Kaspar Hauser ist. Jenem Jungen, der mit 16 Jahren in Nürnberg sprachretardiert aufgefunden wurde.

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Kaspar • Akademietheater (Foto: Susanne Hassler-Smith)

„A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is“ („Ein solcher Reiter möchte ich werden, wie mein Vater gewesen ist.“). Diesen Satz soll Kaspar Hauser damals immer wieder gesagt haben, ohne jedoch den Sinn desselben zu verstehen. Und diesen Satz, von Handke auf „ich möchte einmal der sein, der ein anderer war“ verkürzt, beginnt das Spiel auf der Bühne des Akademietheaters.

Den Angaben, die Handke in seinem Text für die Aufführung fertigte, wird von Daniel Kramer auf seine eigene Art und Weise Rechnung getragen. Eine „Rock-Oper mit grellen Effekten“ stellte sich Handke die Bühnenfassung dar und tatsächlich bewegt sich die Inszenierung im Rahmen eines breiten Genre-Spektrums. Es wechselt zwischen bedrohlichen und absurden Szenen, aber auch solchen, die Empathie mit Kaspar aufkommen lassen oder burlesk-grotesken Szenen. Rockige Musik begleitet die Umbauten. (Musik Tei Blow) Marcel Heuperman gibt einen präsenten, kräftigen, zugleich aber auch zerbrechlichen Kaspar, der sich ohne Sprachfähigkeiten völlig den Repressalien seiner Umwelt ausgesetzt sieht. Eine überdimensionale Schiefertafel, die öfter von einzelnen Ensemblemitgliedern um die eigene Achse gedreht wird, macht deutlich, dass hier ein Lernprozess stattfindet. Kaspar, der zu Beginn als missgestaltetes Ungetüm aus einem engen Plastikschlauch von oben auf die Bühne herabrutscht, wird alsbald aus seinem Monsterkostüm geschnitten. Unter Zuhilfenahme einer elektrischen Baumsäge wird so lange an ihm gezerrt, bis er schließlich nackt auf dem Boden zu liegen kommt. Während er wie ein kleines Kind wimmert, unfähig, sich zu wehren, bläst man die letzten Reste Schmutz mit einem Laubbläser weg. Die Aussage ist deutlich: Dieser Mensch kommt aus dem Wald und wird eher wie ein Objekt behandelt, denn als lebendiges Wesen.

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Kaspar • Akademietheater (Foto: Susanne Hassler-Smith)

Vier durch Latexkostüme unkenntlich gemachte Personen mit Masken auf dem Kopf, sehen sich genötigt, diesem Menschen nicht nur eine Sprache zu lehren. Das Hauptziel, so wird es bald verständlich, ist, diesen durch den Spracherwerb ein Teil der Gesellschaft werden zu lassen. So, dass er sich in diese ohne Umstände einfügen kann. Die Zurüstung dafür erfolgt mittels Worten und Sätzen, so lange, bis der Außenseiter zumindest die Bedeutung von einfachen Worten und Satzgebilden verstehen kann. Dass Handke in seinem Text zugleich der philosophischen Frage nach den Verbindungen zwischen Bildern, Wörtern, deren Bedeutung und Rezeption nachgeht, ist selbstverständlich. Es ist dennoch nicht zwingend notwendig, sich mit diesem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Die Inszenierung ist eindringlich genug, um die Botschaft zu verstehen und lässt die „Einsager und Einsagerinnen“ ohne Mitleid ihr Werk vollenden.

Die Wandlung von einem Menschen ohne differenzierte Sprache und ohne eine Ahnung der ihn umgebenden Begrifflichkeiten, wird auch mithilfe unterschiedlicher Kostüme von Shalva Nikvashvili veranschaulicht. Bekommt er zuerst ein Babyoutfit mit einer übergroßen Haube, darf er wenig später als Schulbub in eine silbrig glänzende Hose und Hemd schlüpfen. Die kunstvollen Sprachkaskaden der Einsager und Einsagerinnen sind atemberaubend und so rasch vorgetragen, dass man sich gut in die Hauptfigur versetzen kann. Diese müht sich redlich ab, sprechen zu lernen und bekommt erklärt, dass Worte und Bewusstsein zusammengehören und es ohne Worte kein Empfinden und keine Gefühle gäbe. Als er das Ziel mit dem Satz „Ich bin, der ich bin“ zu erlangt haben scheint, wechselt das Bühnengeschehen.

Unter sichtbar großem Aufwand entsteht vor den Augen des Publikums eine Wohnungseinrichtung inklusive Dusche und Küche, Bett und Wohnzimmerecke. Nach und nach kommt das gesamte Ensemble in die Szenerie, zieht sich zum Teil ganz aus, duscht und schlüpft in Jogginghosen und Hoodies. Was diese Menschen der Jetzt-Zeit auszeichnet, ist ihre Sprachlosigkeit. Alles, was sie verrichten, geschieht ohne ein Wort. Selbst Interaktionen werden nicht kommentiert. Als eines der länglichen Pakete, die jeder und jede auf die Bühne mitbrachten, ausgepackt wird, kommt eine Maschinenpistole zum Vorschein. Der Wechsel der Begleitmusik hin zu einer, die man locker einem TV-Krimi zuordnen könnte, macht klar, dass das letzte Drama nicht ausbleiben wird. Tatsächlich liegen zuletzt alle, bis auf Kaspar, der sich entfernt hat, leblos am Boden.

Die Existenz, hier auf einen sich ständig wiederholenden Alltagstrott zusammen gedampft, in der sich niemand mehr mit anderen unterhält, niemand mehr den Austausch mit den anderen sucht, scheint eine zu sein, welche den Menschen in den Wahnsinn treibt. So dicht und so drängend in den Szenen davor auch die Sprache verwendet wurde, so unbehaglich einem beim Zusehen dabei werden konnte, so schrecklich scheint das genaue Gegenteil – die Absenz des Gesprochenen – auch zu sein.

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Kaspar • Akademietheater (Foto: Susanne Hassler-Smith)

Mit einer burlesken Szenerie, voll mit Nonsens-Sätzen, Clown-Kostümen und dadaistischem Gehabe, schließt ein Auftritt der vier zuvor schwarz Gekleideten an. Es ist ein Hauen und Stechen mit Worten und mit Objekten, mit dem Schluss-Satz: Endlich sollen alle wollen können, was sie wollen sollen. Nach ihrem Abgang tritt Kaspar in einer völlig veränderten Gestalt auf. Mit grell geschminktem Gesicht in einem Travestie-Kostüm, ist er jetzt fähig, bühnenreife Sätze zu sprechen. „Ich wollte weder ich selber, noch wer anderer sein. Ich selber verstellte mir die Sicht und konnte nichts auseinanderhalten. Ich verirrte mich in den Gegenständen.“ All dies Gesagte spitzt sich mit der Aussage zu: „Das Wehtun hat mir die Verwechslungen ausgetrieben“, wobei sprachlich abstrahiert das zusammengefasst wird, was man zuvor gesehen hat. Gewalt, so lange an Kaspar ausgeübt, bis er sich dem Druck der Gesellschaft gänzlich gefügt hat. Endlich ist er so zugerichtet, wie die Gesellschaft ihn brauchen kann.

In der letzten Szene sitzt er einer gelben Rakete gegenüber, wieder nackt und bloß, ohne Schutz und ohne andere Menschen. Das Atomzeichen auf dem Furcht einflößenden Objekt und das darauf befindliche rote Warnlämpchen, das zu blinken beginnt, machen deutlich, dass sich Kaspar in einer ausweglosen Situation befindet. Seine Antwort darauf kann nicht treffender sein:
„Ziegen und Affen. Ziegen und Affen. Affen und Ziegen“. Die bittere Erkenntnis des nahenden Endes gebiert nichts anderes als abermaligen Nonsens. Was bleibt einem angesichts des bevorstehenden Supergaus anderes auch noch zu sagen?

Laura Balzer, Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann und Markus Scheumann benötigen keine individuellen Charakterdarstellungen. Ihre in rascher Abfolge gesprochenen Texte erfordern jedoch höchste Konzentration und Genauigkeit. Annette Murschetz gestaltete die Bühne mit vielen Objekten kühl und ohne jeglichen persönlichen Touch – eine adäquate Textergänzung.

Die Inszenierung wartet nicht nur mit einer erweiterten Interpretationsebene auf. Sie zeigt auch, wie man heute mit theatralischen Mitteln punkten kann, auch wenn diese längst überholt zu sein schienen. Theater ist nicht gleich Leben, ist nicht gleich Realität. Das ist Gleichung Nummer 1. Theater gehört zum Leben und zu unserer Realität, wie letztlich auch die Sprache. Das wiederum ist Gleichung Nummer 2.

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