Julius Bürger – vertrieben und wiederentdeckt I Ein Wiener Komponist kehrt zurück

Julius Bürger – vertrieben und wiederentdeckt I Ein Wiener Komponist kehrt zurück

Michaela Preiner

Foto: ( Benjamin Pieber - Herzog Media )

23.

August 2023

Die unglaublichsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Dieser Satz, oft gehört oder gelesen, gilt in besonderem Maße aber auch für ein spezielles Konzert.

Das RSO brachte unter der Leitung von Gottfried Rabl im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses am 18.8.2023 Werke von Julius Bürger (1897–1995) zur österreichischen Erstaufführung. Und das 18 Jahre, nachdem der jüdische Komponist 98-jährig in New York verstorben war.

Portrait Buerger vor Klavier Brian Coats

Julius Bürger  (Foto: Brian Coats)

Dass die Stücke überhaupt erklingen konnten, verdanken sie dem klugen Vorgehen von Ronald S. Pohl, einem New Yorker Nachlassanwalt. Er war 1989 von Bürger engagiert worden, um die Verlassenschaft seiner kurz zuvor verstorbenen Frau Rose zu verwalten und den Großteil des Geldes jungen, israelischen Musikerinnen und Musiker zukommen zu lassen. Noch nicht wissend, dass Julius Bürger ein beachtenswertes kompositorisches Werk vorzuweisen hatte, stellte Pohl ihm die Frage, ob er denn aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht auch seinen Nachlass rechtzeitig in Angriff nehmen wollte, was sich als Glücksfall herausstellen sollte. Bürger, in Wien geboren und aufgewachsen, war als junger Mann mit Studienkollegen und seinem Kompositions-Lehrer Franz Schreker nach Berlin gezogen und pendelte danach zwischen London, Paris, Berlin und Wien. Der Einmarsch Hitlers in Österreich alarmierte ihn jedoch derart, dass er mit seiner Frau noch rechtzeitig nach Amerika auswandern konnte. Dort erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft, arbeitete an der Metropolitan Opera, aber auch für Rundfunk- und Fernsehanstalten als Dirigent, Arrangeur und Auftragskomponist, ohne jedoch ganz seine eigene, unabhängige Kompositionstätigkeit aufzugeben.

In Pohl hatte Bürger glücklicherweise einen Mann der Tat gefunden. Setzte dieser doch alle Hebel in Bewegung, um seinem Kunden den Wunsch zu erfüllen, sein Cello-Konzert aus dem Jahr 1932, das 1952 uraufgeführt und seit 1991 nicht mehr erklungen war, tatsächlich noch einmal hören zu können. Pohls Bemühungen waren erfolgreich. Nach Aufführungen in den USA wurde es auch in Israel gespielt – von jenen Musikerinnen und Musikern, die von Rose Bürger Stipendien erhalten hatten. Erst nachdem der Kontakt zu Gerold Gruber, dem Leiter des  Exilarte Zentrums für verfolgte Musik der mdw hergestellt und der musikalische Nachlass von Julius Bürger nach Wien gebracht worden war, war es möglich, auch hier ein Konzert mit Werken von ihm aufzuführen. Wäre Pohl nicht mit dem Komponisten zusammengekommen, darf man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass dessen Werke, die sich gesammelt in einem kleinen Möbel befanden, nach dessen Tod bei der Wohnungsräumung entsorgt worden wären.

Das RSO Wien spielt Julius Bürger.

Foto: Benjamin Pieber – Herzog Media

Adagio für Streichorchester

Die Bandbreite der Arbeiten, die in Wien erklangen, war reichhaltig. Die Eröffnung machte ein Adagio für Streichorchester, aus dem Jahr 1978. Es war das einzige Werk, das schon einmal in Österreich aufgeführt worden war. Sanft dahinfließend, dunkelt es immer wieder kurz ein, um dabei Dramatischeres freizulegen. Die Bassgeigen drängen an einigen Stellen die Streicher förmlich zu Spannungsmomenten, die jedoch von diesen immer wieder bezwungen werden. Sie schaffen es schließlich, das Wilde, das Böse, ja beinahe Unaussprechliche, das sich immer wieder hörbar macht, hinter sich zu lassen und mit einem zarten Wohlklang das Werk ausklingen zu lassen.

Eine gute Wahl, was den Solopart des Cello-Konzertes betraf, das im Anschluss gespielt wurde, war mit Anna Litvinenko getroffen worden. Beeindruckend waren nicht nur die technisch schwierigen, bravourös gemeisterten Passagen, sondern vor allem die Innigkeit und Einfühlsamkeit ihres Solos im letzten Satz. Technik ist nur ein Bestandteil einer gelungenen Aufführung, das Werk aber mit Seele zu füllen, macht jenen Unterschied aus, den Litvinenko dem Publikum vorzeigen konnte.

Nach einer ruhigen Einleitung formieren sich die Bläser und geben einen pulsierenden Rhythmus frei, den das Orchester und das Cello aufnehmen. Bald wird das musikalische Geschehen leichtfüßig tänzerisch und entwickelt sich zu einem langsamen Fluss, in dem sich die rhythmischen Pulsschläge wiederholen. Immer wieder taucht dabei das kleine Thema, kaum 3 Takte umspannend, quer durch das Orchester auf. Den Satz lässt Bürger nur durch die Bläser enden, die vom Cello unterstützt werden.

Den 2. Satz hat der Komponist nachträglich seiner Mutter gewidmet, die von den Nazis beim Marsch nach Auschwitz getötet worden war. Gleich zu Beginn wird ein langer, schleppender Marsch intoniert und das Cello-Thema bald von der Oboe aufgegriffen. Elegisch bringen sich die Streicher ein und werden vom Solo-Instrument, welches das Thema weiterführt, dabei getragen. Der schleppende Duktus verwandelt sich allmählich in ein allgemeines Flirren und einen Übergang des Themas in ein aufgehelltes Szenario mit Harfenbegleitung. Die beruhigende, liebliche Attitüde hält nicht lange, bald schon trübt sich der Klang wieder ein. Er erfährt eine scharfe Ballung und wartet mit einer langen Bläsersequenz mit Disharmonien auf, die das Orchester aufwecken und zu einem wilden, düsteren Geschehen animiert. Nun erhält das Cello ein Solo, das man als illusionslos beschreiben kann. Keine Spur von jener beruhigten, lebensbejahenden Stelle mit Harfenbegleitung ist mehr fühlbar, vielmehr hat es den Anschein, als hätte sich das Cello den Stimmen der wilden Gewalt ergeben. Logisch folgt danach ein Schluss, in welchem das Orchester, wie zu Beginn, den schleppenden Marsch wiedergibt. Wissend um das Schicksal von Bürgers Mutter, kann man fühlen, welchen letzten Lebensmoment er hier musikalisch festgehalten hat.

Im raschen 3. Satz reagiert das Cello fast kammermusikalisch auf die einzelnen Instrumentalsoli. Immer wieder treten von den Streichern, häufig unisono unterstützte, beruhigende Passagen den zuvor erklungenen lebhaften entgegen, die dann wieder mithilfe der Bläser im Wechselspiel mit dem Cello abermals an Fahrt aufnehmen. Den Schluss bildet ein Cello-Solo mit differenzierten, schönen dynamischen Färbungen, welchen ein furioses finales Bläser- und Paukengeschehen nachgesetzt wird. Zu Recht erhielt das Orchester und die Solistin lang anhaltenden Applaus für die Darbietung.

Lieder mit symphonischer Begleitung

Die darauffolgenden zwei Lieder mit symphonischer Begleitung wurden von Matija Meić interpretiert. „Legende“ nach einem Text von Christian Morgenstern und „Stille der Nacht“ nach Gottfried Keller, ließen musikalische Vergleiche mit Gustav Mahler zu. Beinahe jede Zeile, jede Stimmung, jede Beschreibung eines Landschafts-, Seelen- oder Handlungszustandes erhält bei Bürger ihren eigenen, musikalischen Ausdruck. Ob Jesus vor seinem Gang in den Garten Gethsemane, völlig unerwartet mit einer jungen Frau zu tanzen beginnt und diese ausgelassenen Schritte hörbar werden, ob die Brandung eines Meeres bei Gottfried Keller angesprochen, musikalische Wallungen im Klangkörper auslöst, Musik und Wort unterstützen sich gegenseitig kunstvollst. Voll, warm und sehr ausgereift erklang der Bariton von Meić, ohne jedoch eine klare Aussprache vermissen zu lassen. Ihm gelang es mit Leichtigkeit, die breite symphonische Unterstützung, eine Herausforderung für den Sänger bei diesen Werken, als solche zu belassen und sich vielmehr wie ein Solo-Instrument gesanglich einzubringen.

Beide Stücke können als kleine symphonische Dichtungen, jedoch ausgestattet mit einer epischen Wucht unter der Verwendung eines großen Instrumentariums charakterisiert werden, was sie außerordentlich spannend macht. Gerne würde man davon mehr hören.

Das RSO Wien spielt Julius Bürger. Hier im Bild der Bariton Matija Meić

Foto: Benjamin Pieber – Herzog Media

„Eastern Symphony“

Den Schluss des Konzertes bildete die „Eastern Symphony“ aus dem Jahr 1931.
3-sätzig angelegt, wird sie mit einem aufgeweckten Thema in den Bläsern eröffnet, das von den Streichern beantwortet wird. Erinnerungen an den um ein Jahr älteren Gershwin werden dabei wachgerufen, vorwiegend durch die stark akzentuierten Rhythmen, die auch häufig wechseln. Auffallend ist, wie schon bei den Liedern zuvor, dass Bürger das gesamte Orchesterinstrumentarium fast ständig in Bewegung hält. Kaum eine Stelle, in welcher die Musizierenden nicht zugleich gefordert werden, was sich als ungemein reizvoll erweist. Becken, Pauken und Trommeln geben wie auch die Bläser den vorherrschenden Ton an und lassen den Satz als hymnisch-progressiv erfahrbar machen.

Der 2. Satz beginnt mit der Oboe, die vom Orchester breit unterstützt wird. Ihr antworten Geigen und Celli so, dass ein Fließen den gesamten Klangkörper erfasst und eine weite, sich öffnende Landschaft leicht imaginiert werden kann. Wieder ist es die Harfe, die zur Klarinette, dem Fagott und den Streichern, sowie dem leisen Holz überleitet. Es ist diese instrumentale Themenwanderung und zugleich die Weiterführung desselben, welches diesen Satz so interessant macht. Der ruhige Duktus bleibt beibehalten und auch das Ende klingt dementsprechend aus.

Wie könnte es anders sein, beginnt der Schluss-Satz furios im gesamten Orchester mit einem wilden Lauf. Trompeten und Trommeln geben den raschen Rhythmus vor, der sich erst durch Harfe und Oboe mit dem von den Streichern singend vorgetragenen Thema darüber beruhigt. Nun sind es die Flöten, welche diese Landschaftsbeschreibung ergänzen. Als ob man einem Fluss mit kleinen Wasserstrudeln folgen würde, schrauben sich die Geigen, von der Klarinette gehalten, in lebhafter Weise weiter und übergeben diese an die Flöten. Mit einem letzten, wuchtigen Orchestereinsatz, beendet das Thema, noch einmal präsentiert, das schöne Werk.

Die Charakteristik von Bürgers Musik ist eindeutig und kann klar benannt werden. Als Komponist steht er ästhetisch zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, von welchem er nicht nur den Mut zu Klangunschärfen entnommen hat, sondern auch bis dahin ungewöhnliche Rhythmen und manch neue Instrumentierung. Immer jedoch ist seine Kompositionstechnik klar nachvollziehbar, sind Strukturen gut zu erkennen und – das zeichnet Bürgers symphonische Werke in besonderem Maße aus – besticht er durch einen musikalischen Farbenreichtum par excellance.

Österreich, speziell Wien, hat mit diesem Konzert keine Wiedergutmachung betrieben. Eine solche gibt es nicht. Das Statement, das jedoch gesetzt wurde, ist deutlich und war mehr als notwendig. Sich um die Nachlässe von vertriebenen Komponisten und Komponistinnen zu kümmern, ist ein absolutes Gebot der Stunde. Die Arbeit des Exilarte Zentrums der mdw sollte viel stärker in das öffentliche Bewusstsein getragen werden. Eine breitere Bewusstwerdung dieses unrühmlichen Kapitels im Rahmen der Musikgeschichte kann zumindest dazu beitragen, dass die Arbeit der Vertriebenen nicht dem Vergessen ausgesetzt wird. Wir, die wir in der glücklichen Lage sind, Nachgeborene zu sein, können uns entweder aktiv in dieses Geschehen einbringen oder – und das darf nicht unterschätzt werden – wir stürmen Konzerte wie diese und füllen die Säle bis auf den letzten Platz. Damit bekunden wir unser Interesse und geben der Musik das, was sie am Leben hält und ihr zusteht: unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.

v.l.n.r Prof. Gerold Gruber, Anna Litvinenko, Ronald S. Pohl, Gottfried Rabl

v.l.n.r. Prof. Gerold Gruber, Josipa Bainac Hausknecht, Ronald S. Pohl, Gottfried Rabl (Foto: Ronald Pohl)

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