Orpheus, du bist zum Greifen nah

Orpheus, du bist zum Greifen nah

Michaela Preiner

Foto: ( )

29.

Juli 2016

Für meinen Orpheus. Ein persönliches Nachspüren, Hineinspüren in Jule Flierls „Operation Orpheus“.

Die Kühle des Raumes ist nicht nur angenehm, sondern antizipierend symbolhaft. Die Welt, in die Orpheus zurückkehrt, um seine Euridike wieder ins Leben zu holen, ich stelle sie mir kalt vor. Dunkel, vielleicht ein wenig modrig riechend, feucht, angsteinflößend.

Noch stehe ich inmitten einer Menschengruppe im Erdgeschoß des mumok und warte. Auf die Vorstellung „Operation Orpheus“. Warte auf Jule Flierl, die ich noch nie gesehen habe. Warte darauf, wie sie diesen mir so nahegehenden Stoff auf ihre eigene, persönliche Weise interpretiert.

Orpheus, du bist zum Greifen nah.

Nicht nur für deine Euridike. Auch für mich. Bist eine Symbolfigur für einen Menschen, den ich sehr früh in meinem Leben, als Kind schon, verlor. Vielleicht bist du mir deswegen so lieb. Vielleicht geht mir deswegen dein Gesang, den Gluck dir in die Kehle schrieb, so direkt ins Herz.

Wie aus dem Nichts stehst du da. Ruhig, besonnen, wartest darauf, dass sich dein Publikum, das du nun zum ersten Mal siehst, beruhigt. Wartest, bis das aufgeregte Geschnatter sich gelegt hat und Stille eingekehrt ist. Es dauert nicht lange. Dein Erscheinungsbild mag dazu beigetragen haben. Kurze, nach hinten gekämmte Haare, weiße Streifen auf Gesicht und Brust, halb tote Schatten, halb lebendiges Fleisch. Eine schwarze Hose, ein buntes, geblümtes Hemd darüber.

Schmal bist du, ganz zerbrechlich und stehst doch deinen Mann. Oder deine Frau. Je nachdem. Stülpst dir eine Rolle über, die dich fasziniert. Und mich. Und viele andere auch. Sonst würden sie nicht kommen. Sonst wären sie nicht gekommen. In dieses Museum, in dem eine Ausstellung läuft, in der Poesie nicht gerade die am stärksten vertretene Komponente ist.

Der Horizont, weit entfernt, die Strecke dorthin für dich doch überwindbar, wenn du willst. Das erste Bild, das du mir mitgibst. Die Horizontale ist das Lebendige. „Every day above ground is a good day“ formulierte einst ein schwer übergewichtiger Afro-Amerikaner bei einem Seminar, in dem gestylte, weiße Yuppies sich ihre Gehirnwindungen verbogen, um zu formulieren, was denn für sie Erfolg sei. Above ground, der Horizont, Licht, die Möglichkeit voranzuschreiten, wir alle, die wir um dich versammelt sind, tun es täglich und beachten es nicht.

Du drehst dich um, schreitest abwärts. Die Vertikale bekommt Gewicht. Schreitest, dem Mythos folgend, in die Unterwelt. -1, -2, -3, -4, die Stufen scheinen kein Ende zu nehmen. Ich war oft schon hier, bin oft schon mit dem Lift auf- und abgefahren, auch schon über die Treppen marschiert. Noch nie wurde mir die Tiefe des Raumes so bewusst wie heute.

Dunkler ist es geworden. Der Boden der Katakomben grau verfliest. Die Wände dunkel. Wie verabredet, so scheint es mir, setzen sich die Menschen im Kreis um dich herum. Du Orpheus, Sänger, beginnst sein Lied stumm. Jenes Lied, in dem du gefangen bist, warst, sein wirst. Ewigkeit, das beginnt man zu spüren, kann grausam sein.

Orpheus, du bist zum Greifen nah.

Gestikulierst langsam, beginnst dich langsam um die eigene Achse zu drehen. Beugst dich, richtest dich auf, streckst deine Hände himmelwärts. Deine Arme seitwärts, wie ein Vögelchen, das noch nicht fliegen kann, nur davon träumen. Das nur vage spürt, wie das einmal sein wird, das Fliegen. Vereinzelt kommt aus deinem Mund hintereinander, in kurzen Abständen, ein Ton. Dann wieder einer. Lange hast du nicht gesungen. Hattest auch niemanden, der dir zuhörte. Wo ist sie, deine Stimme? Ist sie noch lebendig? Die erste Tonreihe – Fragmente. Stockend. Der Mund bleibt bewegungslos, auch wenn Töne ihm entströmen.

Du bleibst an Stand, rührst dich nicht vom Fleck und bewegst dich dabei doch. Bist aus der Zeit gefallen. Weißt, was Stand- und Spielbein ist und rufst immer wieder nach deiner Euridike. E-u-ri-dice, im italienischen Tonfall. Viel schöner zu singen, viel leichter zu beklagen als mit dem Deutsch ausgesprochenen oi. Wie lange schon stehst und klagst du? Wie viele hunderte von Jahren? Tausende? Was ist die Ewigkeit? Ein bequemes Ausruhen, ein Nichts-mehr-wissen-Müssen oder doch eine Unendlichkeitsschleife des Schmerzes?

Nach und nach verfällst du in eine Trauermechanik. In ein Abarbeiten der Bewegungen, in einen Rhythmus, der den Schmerz zudeckt. Vermeintlich. Sich rühren, nichts denken, immer und immer wieder im selben Muster verharren. Auch das kann Leid zudecken. Vermeintlich. Schön ist er, dein gezierter Stand, in dem abwechselnd das rechte und linke Bein gestreckt einen Halbkreis zeichnet. Auf einen Boden, auf dem sich nichts abbilden lässt. Der keine Spuren zeigt. Auf dem deine Bewegungen, dein Tanz unsichtbar ist und bleiben wird.

„I don´t advance“ – dein Ruf, ich kenne ihn nur zu gut. Stumm habe ich dich oft schon im Traum gesehen. Bewegungslos. Auch ausdruckslos in deinem Gesicht. Unfähig, dich fortzubewegen. Angsteinflößend, bemitleidenswert. Unglücklich auch ich, dich ich spüre, dass du nicht einmal fähig bist, deine Arme auszustrecken, um mich darin wieder einzuschließen. Jetzt stehst du vor mir, Orpheus, zum Greifen nahe und bist dennoch genauso weit weg wie in meinen Träumen.

Die Trauer entlockt dir schließlich einen Verzweiflungsschrei. Ein inneres Aufbegehren, das dennoch ungehört verhallt. Niemanden dazu verleitet, dir zu helfen. Er wird die Erlösung sein. Die Erlösung aus dem Traum, der langsam entschwindet. Den du langsam von dir schüttelst, im schrittweisen Gang nach oben. In der Vertikalen. Hinauf wieder, wir hinterher.

Der Horizont, er wird erahnbar, das Licht mit jedem Schritt heller, spürbarer auf der Netzhaut. Das Leben, es kommt zurück. Der Aufzug hinter dir hält, verschluckt dich plötzlich und nimmt dich mit. Und du singst. „Che farò senza Euridice“, was wirst du ohne Euridice machen? Dein Gesang ist Herz-ergreifend. Bildet sich im Spüren ab wie eine lebendige Schale aus zwei Händen, die mein Herz umfasst. Die es hält, sein Pochen spürt. Es nicht loslässt. Obwohl du nicht mehr da bist.

Wohin bist du jetzt? Nach oben, nach oben, nach oben! Du hattest die Wahl und du hast den Aufstieg gewählt! Nicht noch einmal den Abstieg. Nicht noch einmal das Gefängnis. Nicht noch einmal das Dunkel. Du wirst deine Arme ausbreiten und du wirst fliegen können. Wie ein Vogel, der sich aufschwingt, um von den Winden getragen zu werden. Weit über den Horizont hinaus.

Orpheus, ich lasse dich gehen.

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Jule Fliers „Operation Orpheus“ hier als Kritik zum Nachlesen.

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