Johnny Breitwieser. Eine Verbrecherballade aus Wien von Thomas Arzt (Text) und Jherek Bischoff (Musik)
Eigentlich hieß er Johann, was in Wien allgemein den Kosenamen „Schani“ nach sich zieht. Aber im 21. Jahrhundert rufen ihn alle Johnny. Den Breitwieser. Den Gauner und Womanizer, dem nicht nur die Frauen zu Füßen liegen. Es ist eine „schlechte Zeit“. Die Menschen haben nichts zu essen, der 1. Weltkrieg „zer-tötete“ und „zer-liebte“ gerade, was ihm unter die Waffen kam und die ersten großen Industrieunternehmen wie die Waffenfabrik Hirtenberger sahnten aus dem Elend der Menschen große Gewinne ab.
Johann Breitwieser kannte in Wien vor einhundert Jahren jeder. War er doch ein „Gauner mit Herz“ wie man heute sagen würde. Oder zumindest als Projektionsfläche für die arme Masse zu einem solchen hochstilisiert worden. Er starb 1919, ungefähr ein Jahr nach dem er aus dem Gefängnis ausgebrochen war und mit gestohlenem Geld das Leben eines Biedermannes führen wollte. Heute, rund 100 Jahre später, erlebt er seine Auferstehung am Schauspielhaus in Wien. Dafür schuf Thomas Arzt, mehrfach ausgezeichneter Dramatiker und im Haus in der Porzellangasse mit seiner Arbeit gern gesehen, einen dreistündigen Abend. Moritate mit angeschlossenem Schauspiel könnte man diesen kurz skizzieren. Denn nicht allein der Text macht hier die Musik. Für letztere zeichnet der Amerikaner Jherek Bischoff verantwortlich. Mit kesser 50er-Jahre Locke und bunter Blume am Revers saß er am Premierenabend samt Entourage im Publikum. Und genoss sichtlich nicht nur die singenden Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch das Ensemble Lux. Ein Wiener Streichquartett, spezialisiert auf zeitgenössische Musik, das vom Schlagzeuger Matthias Koch an den Percussioninstrumenten ergänzt wurde. Für wahr ein anderes Klangmedium, als es der junge Komponist sonst bedient. Denn es sind unter anderen Namen wie David Byrne oder Amanda Palmer, für die er sonst Musik schreibt.
Musik als Querverweis
Die Klang-Text-Kombination erinnerte stellenweise stark an die Dreigroschenoper von Brecht und Weill. Vor allem in jenen Nummern, in denen der Chor aus den Ensemblemitgliedern lautstark Propaganda gegen die herrschende Klasse und gegen den alles zerstörenden Krieg betrieb. Zusätzlich steuerte Bischoff so manchen Ohrwurm bei – im Marsch-, Polka-, oder Walzerrhythmus und hielt dabei den Klangraum vage zwischen Tonalem und Atonalem. Und – höchst interessant und vielleicht nur von „älteren Semestern“ erkannt – erklang immer wieder die Melodie von „Dr. Schiwago“. Jenem 65er Jahre Kinomelodram, das ein wahrer Blockbuster war und Millionen von Menschen in die Lichtspielsäle lockte. Die Verbindung liegt auf der Hand. Denn beides – die Geschichte von Breitwieser und jene von Dr. Schiwago spielt zur selben Zeit und vor allem vor dem Hintergrund der großen politischen Umstürze. Wien und Moskau – diese Achse spielte damals auch politisch eine wichtige Rolle. Wie in den „Schwestern“ von Tschechow ist es auch Breitwiesers Bruder, der so gerne „nach Moskau!“ möchte, den Absprung jedoch nicht schafft. So bleibt die Stadt der Revolution ein Traum, der sich in Bischoffs Musik widerspiegelt. Gewiss ist dieses Zitat als auch eine Reverenz an die Unterhaltung im Kino zu sehen, für die der Komponist häufig musikalisch zuständig ist.
Der Regisseur Alexander Charim nahm im Text von Arzt keine Striche vor. In Verbindung mit den vielen Musikeinlagen rückte er so das Spiel um den Mann, dessen früher Tod schon von Anbeginn an feststeht, beinahe in Eposlänge. Dass man dennoch seine Gedanken nicht abschweifen lässt, ist dem Ensemble zu verdanken, das spielt, als wäre das Gestern ein Heute. Dabei mutierte Schödl, Breitwiesers Widersacher und Vertreter der Staatsgewalt, plötzlich selbst zu seinem eigenen Bluthund. Genial, wie Florian von Manteuffel diese Doppelrolle zu spielen vermochte und sich in das Bein von Breitwieser (Martin Vischer) verbiss. Luise, im Programmheft „Das Volk“ betitelt, wird von Nicola Kirsch dargestellt. Charim rückt sie beinahe in die Rolle einer antiken, griechischen Seherin, deren wortgewaltige Gesellschaftsanalyse niemand hören will. „Staad schauend“ ist sie im Diktum von Thomas Arzt, „so staad wie das Land seit Jahrhunderten“, womit sie die eingefrorene Monarchie und ihre unbewegliche Gesellschaft kennzeichnet. Ihre Gegenspielerin Anne – trotzig zornig von Franziska Hackl interpretiert – wandelt sich vom Mädchen aus der Gosse zur Hausherrin, wenn auch nur für kurze Zeit. Greta (Katja Jung) ist jene reiche Witwe, zu der Breitwieser sich alleine schon aufgrund ihrer sozialen Stellung hingezogen fühlt. Ihr gewaltsamer Tod berührt ihn mehr als er seiner Familie zeigen darf. Martin Vischer als gewitzter Gauner, der das Leben über alles liebt und bei seinen Einbrüchen keinerlei Risiko scheut, brilliert an diesem Abend facettenreich. Als Verführer und Widerstandskämpfer, Gefangener und Suchender nach einem besseren Leben kann er alle schauspielerischen Register ziehen. Gideon Maoz als Wenzl, Breitwiesers Freund und schließlich auch sein Verräter, bewegt sich beständig in dessen Schatten, aus dem er so gerne hervortreten möchte, daran aber kläglich scheitern muss. Thiemo Strutzenberger tritt als Carl auf, der seinem Bruder Johnny zur Seite steht, wo er kann. Selbst kein Kind von Traurigkeit, lässt er sich in der Hochblüte seines Lebens auf jegliche noch so wilde Eskapade ein und stöckelt mit kessem Abendkleid, falschen Perlen und Highheels über die Bühne. Als Kriegskrüppel zeigt er einen geläuterten Charakter, in sich gekehrt, mit dicker Brille und dem von keiner falschen Moral geprägten Wissen, einst als „Engelmacher“ zum Wohl der Frauen beigetragen zu haben. Eine gebrochene Existenz, die dies auch in einem Gesangssolo ausdrückt, das er stimmlich nicht bewerkstelligen kann. Der Mut zum Scheitern wird hier überdeutlich.
Ein Bühnenbild zum Hören
Besonders hervorgehoben muss Ivan Bazak werden, der sowohl für die Ausstattung als auch für die Kostüme zuständig war. Er schuf einen zeitlosen Raum mit einem großen, quer über die Bühne verlaufenden Metallgestellt. Das war vertikal mit Plastik- und Metallstäben verstrebt, sodass die Schauspielerinnen und Schauspieler mühelos aufgrund der dehnbaren Seile zwischen Vorder- und Hintergrundgeschehen wechseln konnten. Darüber hinaus diente die Konstruktion auch als akustisches Instrument, das in seinem Einsatz eine einzigartige Soundkulisse bot.
Es ist gar nicht so sehr der historische Stoff, der an diesem Abend begeistert. Obwohl er auch einer gewissen lustvollen voyeuristischen Schau ins Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleichkommt. Die absolute Stärke der Inszenierung liegt in der Vereinbarkeit des Textes von Thomas Arzt nicht nur mit einer Musik, die – historisch betrachtet – das wienerische Klanggeschehen der letzten hundert Jahre komprimiert. Vor allem die zeitgeistige Inszenierung von Charim transferiert das Geschehen glaubhaft ins Hier und Jetzt. Die sozialen Spannungen, die Kumulierung des Kapitals und die Verdrängung der nicht wohlhabenden Bevölkerung aus den innerstädtischen Bezirken sind eins zu eins mit dem Geschehen vor hundert Jahren vergleichbar. Erst vor wenigen Monaten gab der Wiener Rapper Ardalan Afshar, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Nazar in einem Interview zu verstehen, dass der erste Wiener Bezirk für ihn und seine Freunde aus Favoriten immer ein Traum war, der für sie unerreichbar schien. Die eleganten Geschäfte, die schönen Häuser, da wollte er einmal hin – und Geld haben für all das, was die Konsumgesellschaft dort in den Schaufenstern bereithält. Nazar hat es geschafft. Im letzten Moment, vor einer kriminellen Karriere, wie er bereitwillig zugab.
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