Verliebtsein, sich lieben, sich gleichgültig werden, in den Alltag gleiten, altern, ja sogar hassen und schließlich in hohem Alter sterben. Würde man diesen Beziehungs-Ablauf jungen Paaren vor Augen halten, sie würden sich dennoch nicht davon abhalten lassen eine Gemeinschaft einzugehen. Zu fern und abartig erschiene ihnen diese prosaische Kurzfassung eines gemeinsam verbrachten Lebens. Und dennoch trifft diese Schilderung für die meisten Paare zu, die das Glück oder auch Unglück haben, gemeinsam alt zu werden.
Die von den Kapverden stammende Marlene Monteira Freitas und der Deutsche Andreas Merk verpackten diese nüchterne Sicht auf ein gemeinsames Leben in ihrer Tanzperformance „Jaguar“, deren Premiere in Wien beim Impulstanz-Festival genau während eines Starkregens in Wien im Odeon über die Bühne ging. Die auditive Regenuntermalung fügte sich so passgenau in die Szenen, dass man meinen konnte, sie gehörte zum Soundkonzept. (Tiago Cerqueira)
Wenige Requisiten markieren ein gesellschaftlich normiertes Setting
Ein großes, hellblaues Styroporpferd, ein kleines Podest – wie man es von Siegerehrungen her kennt, und mehrere Handtücher, zwei Bademäntel, zwei weiße Helme und 2 Stecken – an die man normalerweise Putzgerätschaften steckt um Böden zu reinigen – mehr bedurfte es nicht, um die Geschichte eines Paares zu beschreiben, das sich auf Gedeih und Verderb aneinander ausgeliefert hatte. Stark geschminkt, mit großen, roten Mündern und bronzierter Haut, war klar, dass das hier Gezeigte symbolisch für abertausende Schicksale stand. Schicksale, die meist niemand erzählt, aber viele von uns in der eigenen Familie oder von Freunden kennen. Montero Freitas Bühnengesicht mit dem übergroßen, roten Clownmund, dem weißen Stirnband und der UV-Schutzbrille ist in diesem Sommer vielen Wienerinnen und Wienern bekannt – denn sie ziert damit eines der Hauptsujets des Impulstanz-Festivals auf vielen Plakaten in der Stadt. Merk trug passend dazu dasselbe Outfit – ein Herz und eine Seele waren da zu Beginn auf der Bühne vereint.
Einmal quer durch die Tanzgeschichte
Tänzerisch steuerten die beiden nicht nur jede Menge Bewegungsvokabular aus dem zeitgenössischen Repertoire bei. Auch Anklänge aus dem klassischen Ballett, oder solche aus dem Triadischen Ballett oder von Standardtänzen wie einem flotten Tango, der in einen Walzer überging, waren dabei zu erkennen. Musikalisch wurde tief in die Trickkiste gegriffen. Waren es zu Beginn elektronische Klänge, veränderte sich der Sound mit der „Verklärten Nacht“ von Arnold Schönberg an einem einschneidenden Moment. Genau in jener Szene, in der die erste Verliebtheit – gemeinsam ausgelassen über die Bühne getanzt, gehüpft, gesprungen und zelebriert – und das darauf folgende, traute Zusammensein einen tiefen Riss bekam. Montero Freitas, die sich dabei in einem körperlich schlechten Zustand präsentierte, erhielt bei einem Schwächeanfall von ihrem Partner nicht nur keine Hilfe, sondern ab da an keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Ihr logisch resultierender seelischer und körperlicher Zusammenbruch gehört wohl zu den eindrücklichsten Szenen auf der Bühne, in welchem das psychische Leid einer von der Liebe verlassenen Frau sichtbar gemacht wird.
Ein Badehandtuch als Liebessymbol
Ein großes Badehandtuch wurde dabei als Symbol ihrer verflossenen Liebe verwendet. Montero Freitas ließ es nicht los, wickelte sich damit ein, bedeckte ihr Gesicht damit völlig. Sie verhedderte sich darin, nahm es in den Mund, biss zu, um es nicht mehr loszulassen. Zuerst schwankend, zutiefst erschüttert, landete sie schließlich am Boden, wälzte sich, weinte und erstarrte schlussendlich. Die Szene erschien eingegossen in eine Zeit, die still steht, eine Zeit, in der das Leid nicht enden will und dennoch verfließen muss.
Musikalische Opulenz
Der Mann an ihrer Seite blieb dabei ungerührt. Unbekümmert, als ob ihn der Zustand seiner Partnerin völlig egal wäre, machte er weiter wie zuvor. Er stählte seinen Körper, nahm an offensichtlich gesellschaftlichen Ereignissen teil und verwunderte sich nur ab und zu über den Zustand seiner Frau. Mit Monteverdis Lamento, in dem eine Nymphe beweint, dass sie von ihrem Liebsten keine Küsse mehr erhalten wird, verlängerte sich das Leid der gebrochenen Frau. Das Spiel von Liebe und Verlassenwerden ist ein altes, sollte der musikalische Einschub wohl vermitteln. Mit einem Ausschnitt aus Strawinskys „Le sacre du printemps“ steuerte das dramatische Geschehen schließlich seinem Höhepunkt zu. Aber es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Montero Freitas ihren Schmerz verstecken und zur Tagesordnung übergehen konnte. Das Zurückfinden seiner Frau in einen mechanistischen Alltag kam ihrem Mann sehr gelegen und ersparte ihm, darauf zu reagieren. Erst viel später, als er sichtbar gealtert war, holte ihn diese Episode ein und brachte ihn dazu, mit seinem Leben zu hadern.
Monteiro Freitas und Merk haben eine genaue Sezierung einer Paarbeziehung vorgenommen und verschiedene Stadien des Alterns, der Desillusionierung, des Aufbegehrens und schließlich wieder Zusammenfindens studiert und wiedergegeben. Das übergroße Badetuch der Frau ist am Schluss auf ein kleines Handtuch zusammengeschrumpft, wie man es bei Handwaschbecken seinen Gästen anbietet. Eine deutliche Metapher ihrer auf ein Minimum geschrumpften Liebe.
Das Pferd als Symbol für Heim und Herd
So dauerte es über 100 Minuten, bis auch das letzte Gerüst eines intakten Lebens in der Metapher des blauen Styropor-Pferdes, auseinander brach. In Momenten der psychischen Unsicherheit bot es bis dahin zumindest die Möglichkeit eines illusionierten Zufluchtsraumes. Einer Umgebung, der man, einmal von der Liebe verlassen, mehr Aufmerksamkeit widmet als seinem Partner. Schrubben und Putzen als Übersprungshandlung in Momenten, in welchen man sich mit seinem Schicksal nicht wirklich auseinandersetzen möchte, sind ein gängiges Muster und dazu geeignet, die eigene Lebenslüge aufrecht zu erhalten – auch das zeigten die beiden in ihrer Choreografie auf. Mit Puccinis Arie der Madame Butterfly schließlich verabschiedete sich die Tänzerin in den Armen ihres Partners mit einem lauten Schrei vom Leben. Der Moment, in welchem beide ihre Partnerschaft in hohem Alter ohne Wenn und Aber wieder akzeptieren können, in welchem sich die Lebenswogen geglättet haben und sie auf die gegenseitige Hilfe angewiesen sind, ist jener, in dem sie brutal auseinander gerissen werden.
„Jaguar“ – der Titel ist einem Songtext von Prince entnommen – schreckt vor einem realistischen Blick auf das Leben vieler Menschen nicht zurück. Nur die kreative, künstlerische Verpackung macht die ungeschminkte Wahrheit erträglich. Der Tanz steuert hier das bei, was dem realen Leben jedoch meist fehlt. Eine hohe Ästhetik und das Gefühl, dass der Mensch zu mehr fähig ist als einem trivialen Lebens- und Beziehungskampf. Die eindringliche Show hat das Zeug zu einem Top-Dance-Event, das man – ohne Substanzverlust in gekürzter Version – gerne noch einmal anschauen würde.