Metropolen sind hybride Wesen. Sie glänzen mit Prunk und Pracht, bieten alles, was man sich nur wünschen kann. Aber nur für einen Teil der Bevölkerung. Jene, die im Establishment sitzen, jene die finanziell gut ausgestattet sind, genießen ihre Vorteile. Der Mittelbau, der rund um den Globus schrumpft, kann sich gerade noch mit den Anforderungen von Großstädten arrangieren, aber es steigt die Zahl jener Menschen, die im Prekariat ihr Leben fristen. Die Fotos von Elendsvierteln aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind bekannt. Niemand schaut aber heute auf die wachsende Zahl jener, denen es nur mit großer Mühe gelingt, irgendwie im Großstadtdschungel über die Runden zu kommen. Oft sind es Migranten, die aus armen Ländern kommen, keine Lobby hinter sich haben und sich gegen die Ausbeutung, die sie erleben, auch nicht zur Wehr setzen können.
Der Tänzer und Choreograf Ivo Dimchev, der selbst einige Zeit in Paris verbrachte, gestaltete bereits 2008 einen Abend, in dem er den künstlerischen Zeigefinger auf genau diese soziale Wunde legte. Gemeinsam mit dem Tänzer Christian Bakalov, ebenfalls wie Dimchev aus Bulgarien stammend, zeigte er nun in einer Neubearbeitung beim ImpulsTanz Festival auf, dass der Wille, ein besseres Leben zu führen, seine eigenen künstlerischen Träume ausleben zu können, tanzen zu dürfen, lange nicht reicht, um in einer fremden Gesellschaft Fuß fassen zu können. Seine dramatisch aufgebaute Arbeit „Paris“ war zugleich die erste aus einer fünfteiligen Reihe, die Dimchev in diesem Sommer in Wien auf die Bühne bringt.
Ein ärmlich bekleideter, zarter Mann steht zu Beginn vor einem wie improvisiert wirkenden, schwarzen Vorhang. Schwarze Winterjacke, löchrige Jean, schwarze Haube. Er starrt ins Publikum, zuerst angeekelt, bald verzweifelt. Holt sein Handy aus der Tasche, präsentiert es und grunzt schweinisch und rhythmisch zur Musik, die Dimchev am Bühnenrand mittels Keyboard beisteuert. Handys aus!, ist eine der Botschaften, die dabei ausgesendet wird, aber subtil schiebt er damit zugleich auch eine Anprangerung unserer Konsumgesellschaft über die Rampe. Er ist einer von Hunderttausenden, die in Paris versuchten, seinen Traum zu leben und der in ein Land kam, in dem die Gesellschaft rigide ein Außen und ein Innen, ein Oben und ein Unten ihrer Mitglieder unterscheidet.
Nachdem er die Jacke abgelegt hat, wird sein rotes T-Shirt sichtbar, unter dem er, so hat es den Anschein, plötzlich zu bluten beginnt. Ein beständiger, ruhiger Strahl tropft von der Höhe knapp unter seinem Brustbein über seinen Körper, färbt sein Shirt dunkel und kündet von einer sonst unsichtbaren Herzwunde. Der Mann, der hier vor dem Publikum steht, leidet und macht sein stilles Leid für alle drastisch sichtbar. An diesem Abend wird noch mehr Blut zu sehen sein. Oder zumindest eine Farbe, die sich wie von Zauberhand in eine blutrote Flüssigkeit verwandelt. Ein rosarotes Pulver, elegant und prätentiös in die Luft geschleudert, verändert sich am Boden in eine tiefrote Flüssigkeit, auf der Bakalov bäuchlings zu rutschen beginnt. Dass er in Paris als Taxifahrer arbeitete, dass er Exkremente von Mensch und Tier beseitigte, all das weiß man schon. Und die Frage, wie lang dieses Leiden andauern würde, beantwortet der Künstler später. 20 Jahre hat er in Frankreich gelebt.
In einer absurden Szene, in welcher er an Dimchevs Hand und mit Knieschützern ausgestattet, im Kniestand über die Bühne hoppelt und dabei verzweifelt seine Dienste als Taxichauffeur anbietet, karikieren die beiden den Glanz der Metropole auf ihre eigene Art. In einem eindrücklichen Bild werden sie dabei zu lebenden Fontänen, Springbrunnen, spucken Wasser aus ihren Mündern, dass es nur so patscht und sprengen zugleich den Boden damit, um ihn später als Blutgrund benutzen zu können.
So absurd und humorig vielleicht der ein- oder andere Auftritt von Bakalov erscheinen mag, es gab einige Menschen im Publikum, die punktuell herzlich lachten, der eingesetzte Humor ist stets ein schwarzer, bitterböser, einer, bei dem das Lachen im Hals stecken bleibt.
Dimchev überlässt in der Produktion, wie auch in seinen anderen, nichts dem Zufall. Er verfolgt eine dramaturgische Linie, die sich auch daran orientiert, wie so mancher Effekt vorbereitet werden kann, ohne dass das Publikum dies mitbekommt. Musik, Tanz, Theater, nichts davon wird bei ihm zufällig eingesetzt. Sein Performance-Verständnis ist zutiefst von der Idee gespeist, dem Publikum eine perfekte Show zu liefern. Und sei sie auch noch so tiefgründig und bitter in der Kernaussage. Wer lachen möchte, kann das trotzdem tun. Seine Musikalität – er ist mit einer enormen Stimmbreite ausgestattet und begleitet sich am Keyboard sicher von der Baritonstimmlage bis hinauf ins Falsett – unterstützt die Produktion höchst subtil.
Bakalovs Lamento, das zwischen völliger Resignation und hitzigem Aufbegehren pendelt, wird nicht nur musikalisch, sondern auch mit geflüsterten Durchhalteparolen von Dimchev unterstützt. Der Grund, warum sich Balakov diesem Leidensweg aussetzt, wird mit sporadischen Posen und Tanzschritten aus dem klassischen Ballett visualisiert. „I´m in the center oft he city, confused, on the edge of a suiciede, I am a monument.“ In diesem Satz fasst er sein Elend und seine Befindlichkeit zusammen. Als Ausdruck seiner Einsamkeit und seines auf sich selbst Geworfenseins wird er später, am Boden rutschend, onanieren. Was in all dem Elend schließlich bleibt, ist sein eigener Körper, dessen Lust in der Isolation selbst befriedigt werden muss.
Der französische Reisepass, sichtbarer Ausdruck einer Staatsbürgerschaft – auch er hilft nicht weiter. Die Botschaft, die der Tänzer setzt, als er sich die Tricolore während seines bäuchlings ausgeführten Blut-Bades auf sein nacktes Gesäß aufpflanzt, ist unmissverständlich. Grandios ist schließlich jener Part, in welchem Dimchev über die eigene Rolle im Tanzbusiness reflektiert. Dazu lässt er Bakalov zu Wort kommen, der darauf hinweist, dass er Dimchev dankbar für dieses Solo ist, dass er aber von diesem auch direkte Anweisungen erhalten habe, wie es zu gestalten sei. Dem Vergnügen oder auch der Sucht, auftreten zu dürfen, wird auf dem Tempel der persönlichen Freiheit alles geopfert. Dass am Ende beide Männer hysterisch lachen, ist da nur eine logische Konsequenz.