Ismène – Für Marianne PousseurIsmène – Pour Marianne Pousseur

Ismène - Foto: Michel Boermans

Ismène - Foto: Michel Boermans

Der mann neben mir beginnt seinen blick hinter seiner hand zu verbergen. Er ist alt. Er hat angst, deine zur schau gestellte blöße zu sehen. Er würde wahrscheinlich gerne den saal verlassen, aber er sitzt genau in der mitte der reihe. Gefangen in seinem eigenen bestreben, einen guten platz zu erhalten. Jetzt ist ihm jede sekunde peinlich. Ich versuche, ihn mit seiner geste auszublenden, mich auf dich zu konzentrieren, was mir auch schnell gelingt. Die weiße schminke, die du anlegst, rückt dich in weite ferne. Das wasser, das unter deinen füßen platscht, verursacht in mir das gefühl von mitleid. Über eine stunde wirst du darin stehen, sitzen, liegen. Nackt. Die weiße schminke verstärkt deine falten. Jetzt wird deutlich, was vorher nicht zu sehen war. Dein alter. Es ist auch mein alter, das mich in der spiegelung nicht erschreckt. Dein auftritt kommt zu einem zeitpunkt, in welchem ich mich mit meinem alter bereits angefreundet habe. Vor einem jahr noch wäre es anders gewesen. Du stehst da, gerade, den kopf erhoben. Du sitzt da, gerade, den kopf erhoben und ich weiß, dass mir diese haltung fremd ist, obwohl ich sie gerne auch mein eigen nennen möchte. Aber sie ist deine. Du sprichst von deiner schwester, erinnerst dich – aber diese erinnerungen sind nicht meine. Dann erzählst du von den sommern deiner kindheit und nimmst mich mit in diese welt der gedanken, die wir teilen, und die dennoch nicht die selben sind. Du erzählst, wie du die namen der pflanzen und tiere lerntest und ich sehe mich als kind auf dem land, im garten. Wie ich einen toten vogel begrabe, unter einem baum und ein kleines holzkreuz einstecke. Ich erinnere mich, dass es ein zeichen für die ewigkeit sein sollte, weil ich keinen begriff von ewigkeit hatte, sowie ich keinen begriff von sterben und leben hatte. Du erzählst von deinem vater und dass du sein gesicht nie vergessen wirst. Das gesicht meines vaters ist eines der wenigen, das auch ich nicht vergessen werde und das sich in diesem moment zwischen dich und mich schiebt. Deine schöne stimme gehorcht dir auf kommando. Ob du sprichst oder singst, sie bereitet dir keinen widerstand, sie ist ein instrument, das du beherrscht, wie ich die tasten meines pc beherrsche. Du lässt die luft über deine stimmbänder gleiten, wie ich die gedankenströme aus meinem gehirn hinab gleiten lasse, über meine arme, zu meinen fingerspitzen, um sie auf den tasten durch druck schließlich elektronisch zu bannen und auf dem schirm sichtbar zu machen. Du machst deine stimme hörbar und deinen körper sichtbar. Du bist mutiger. Deswegen hast du meine hochachtung erlangt. Deine traurigkeit, von der du erzählst, ist nicht meine. Denn ich habe, im gegensatz zu den millionen von traurigen menschen auf dieser welt eine möglichkeit gefunden, meine traurigkeit zu überwinden, auszublenden, zu unterdrücken. Als du dich schlafen legst, dein weißes fleisch ein wenig im wasser eintaucht und dein atem deinen körper durch einen leicht pulsierenden, weißen rauch verläßt, ist es gut. So habe ich es mir vorgestellt und so wird es sein. Ganz natürlich.

Ismene wurde im Rahmen der Festivals Musica im TNS (Theatre national de Strasbourg) aufgeführt.
Meine Besprechung finden Sie bei der European News Agency
Der mann neben mir beginnt seinen blick hinter seiner hand zu verbergen. Er ist alt. Er hat angst, deine zur schau gestellte blöße zu sehen. Er würde wahrscheinlich gerne den saal verlassen, aber er sitzt genau in der mitte der reihe. Gefangen in seinem eigenen bestreben, einen guten platz zu erhalten. Jetzt ist ihm jede sekunde peinlich. Ich versuche, ihn mit seiner geste auszublenden, mich auf dich zu konzentrieren, was mir auch schnell gelingt. Die weiße schminke, die du anlegst, rückt dich in weite ferne. Das wasser, das unter deinen füßen platscht, verursacht in mir das gefühl von mitleid. Über eine stunde wirst du darin stehen, sitzen, liegen. Nackt. Die weiße schminke verstärkt deine falten. Jetzt wird deutlich, was vorher nicht zu sehen war. Dein alter. Es ist auch mein alter, das mich in der spiegelung nicht erschreckt. Dein auftritt kommt zu einem zeitpunkt, in welchem ich mich mit meinem alter bereits angefreundet habe. Vor einem jahr noch wäre es anders gewesen. Du stehst da, gerade, den kopf erhoben. Du sitzt da, gerade, den kopf erhoben und ich weiß, dass mir diese haltung fremd ist, obwohl ich sie gerne auch mein eigen nennen möchte. Aber sie ist deine. Du sprichst von deiner schwester, erinnerst dich – aber diese erinnerungen sind nicht meine. Dann erzählst du von den sommern deiner kindheit und nimmst mich mit in diese welt der gedanken, die wir teilen, und die dennoch nicht die selben sind. Du erzählst, wie du die namen der pflanzen und tiere lerntest und ich sehe mich als kind auf dem land, im garten. Wie ich einen toten vogel begrabe, unter einem baum und ein kleines holzkreuz einstecke. Ich erinnere mich, dass es ein zeichen für die ewigkeit sein sollte, weil ich keinen begriff von ewigkeit hatte, sowie ich keinen begriff von sterben und leben hatte. Du erzählst von deinem vater und dass du sein gesicht nie vergessen wirst. Das gesicht meines vaters ist eines der wenigen, das auch ich nicht vergessen werde und das sich in diesem moment zwischen dich und mich schiebt. Deine schöne stimme gehorcht dir auf kommando. Ob du sprichst oder singst, sie bereitet dir keinen widerstand, sie ist ein instrument, das du beherrscht, wie ich die tasten meines pc beherrsche. Du lässt die luft über deine stimmbänder gleiten, wie ich die gedankenströme aus meinem gehirn hinab gleiten lasse, über meine arme, zu meinen fingerspitzen, um sie auf den tasten durch druck schließlich elektronisch zu bannen und auf dem schirm sichtbar zu machen. Du machst deine stimme hörbar und deinen körper sichtbar. Du bist mutiger. Deswegen hast du meine hochachtung erlangt. Deine traurigkeit, von der du erzählst, ist nicht meine. Denn ich habe, im gegensatz zu den millionen von traurigen menschen auf dieser welt eine möglichkeit gefunden, meine traurigkeit zu überwinden, auszublenden, zu unterdrücken. Als du dich schlafen legst, dein weißes fleisch ein wenig im wasser eintaucht und dein atem deinen körper durch einen leicht pulsierenden, weißen rauch verläßt, ist es gut. So habe ich es mir vorgestellt und so wird es sein. Ganz natürlich.

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